2024 war für Nils Politt ein Jahr voller Highlights: Topergebnisse bei den Klassikern, ein triumphaler Sommer bei der Tour de France. Im Interview spricht der Kölner über Erfolge, Team-Dynamik und sein Verhältnis zu Tour-Sieger Tadej Pogacar.
Zur Person:
✅ Tour-de-France-Sieg in der Mannschaftswertung 2024
✅ Gesamtsieg Deutschland Tour 2021
✅ Etappensieg bei der Tour de France 2021
✅ Platz zwei Paris–Roubaix 2019
✅ Platz drei Flandern-Rundfahrt 2024
✅ Deutscher Meister Zeitfahren 2023 & 2024
✅ Profi seit 2015
✅ geboren 1994 in Köln
✅ verheiratet, drei Kinder
ROADBIKE Exklusiv: Nils Politt
ROADBIKE: War 2024 dein bislang erfolgreichstes Jahr?
Nils Politt: Ja, das würde ich sagen. Besonders, wenn ich es mit meinen bisherigen Erfolgen vergleiche. Wenn ich auf meine Karriere zurückblicke, habe ich schon einiges erreicht, aber manchmal vergesse ich das im Alltag. 2024 hat sich für mich aber wirklich herausgehoben: der zweite Platz beim Omloop Het Nieuwsblad, der dritte Rang bei der Flandern-Rundfahrt und Top-Ten-Ergebnisse bei nahezu allen Frühjahrsklassikern. Das war für mich ein phänomenales Frühjahr und hat mich enorm motiviert.
Dann kam der Sommer. Wir haben mit Tadej Pogacar den Gesamtsieg geholt, dazu konnten wir als Team auch die Mannschaftswertung für uns entscheiden.
Natürlich gab es auch davor Jahre, die super waren. 2019 wurde ich Zweiter bei Paris–Roubaix und ich war in den Top Ten bei E3 und der Ronde. 2021 konnte ich eine Etappe bei der Tour gewinnen und den Gesamtsieg bei der Deutschland Tour holen. Aber in Summe muss ich schon sagen, dass 2024 für mich ein neues Level war.
Wie gelingt der Wechsel vom Kapitän bei den Frühjahrsklassikern zum Edelhelfer bei der Tour de France?
Das ist eine Umstellung, die ich sehr gerne mache – besonders bei einem Team wie UAE Emirates. Einer der Gründe, warum ich mich dort so wohlfühle, ist die Offenheit in der Teamtaktik. Bei den Frühjahrsklassikern habe ich meine Chancen und werde als einer der Kapitäne aufgebaut. Gleichzeitig ist es aber nie so, dass mir ein Ergebnis aufgezwungen wird. Es heißt nicht: "Nils, du musst heute gewinnen!" Stattdessen wird der Druck auf mehrere Schultern verteilt. Bei den Klassikern fahren wir oft mit drei bis vier Fahrern, die Siegchancen haben. Mit Leuten wie Tim Wellens, Mikkel Bjerg und anderen können wir flexibel reagieren. Das hilft enorm, denn als Fahrer weißt du, dass es nicht nur an dir hängt. Es gibt keine Schuldzuweisungen, wenn es mal nicht klappt. Diese Mentalität entlastet mich enorm und hilft mir, meine beste Leistung abzurufen. Im Sommer ist der Wechsel in die Helferrolle dann tatsächlich relativ einfach. Vor allem, weil ich weiß, für wen ich arbeite. Für Tadej Pogacar zu fahren, macht einfach Spaß! Du spürst, dass er ein echter Leader ist, der jeden Einzelnen im Team wertschätzt. Und du merkst auch, dass er dir für deine Arbeit etwas zurückzahlt, indem er liefert. Für ihn gibt man wirklich alles. Da mobilisiert man Reserven, die man sonst vielleicht nicht findet.
Was hat sich durch den Wechsel von Bora-hansgrohe zu UAE Team Emirates für dich verändert?
Das war natürlich ein großer Schritt, weil sich alles verändert hat: neues Material, neue Trainer, neue Teamkollegen. Aber ich muss sagen, dass ich mich dort unglaublich schnell wohlgefühlt habe. UAE ist eine extrem professionelle Mannschaft mit sehr viel Know-how. Es war sofort klar, dass ich hier auf einem neuen Level trainieren und fahren muss – das hat mich enorm motiviert. Das Training ist deutlich intensiver geworden, vor allem in den oberen Leistungsbereichen. Im Vergleich zu Bora fühle ich mich bei UAE einfach besser aufgehoben. Es wird offener kommuniziert und es gibt weniger Druck von außen. Ich habe zum Beispiel erlebt, dass bei Bora Dinge öffentlich gemacht wurden – etwa, ob ein Fahrer sein Geld wert ist, ohne mit ihm selbst darüber zu sprechen. Das hat mich und auch andere Fahrer gestört, weil solche Themen meiner Meinung nach nicht als Erstes in die Presse gehören. Bei UAE herrscht da eine andere Philosophie, und das tut mir als Fahrer sehr gut.
In anderen Teamsportarten wie Fußball oder Basketball hört man oft, dass die Chemie im Team entscheidend ist. Man hat den Eindruck, dass es bei euch auch so ist.
Absolut! Ich glaube, das ist eines der Geheimnisse unseres Erfolges. Wir haben eine sehr lockere Atmosphäre im Team. Das liegt auch daran, wie das Management arbeitet. Es wird nicht an jeder Kleinigkeit herumgemäkelt, und wir Fahrer haben auch Freiheiten, können auch mal im Rennen einen Joke machen.
Wie sieht das dann aus?
Wenn jemand mal aus Spaß angreifen will, auch auf einer Sprinteretappe, dann wird das nicht kritisiert. In anderen Teams habe ich erlebt, dass so etwas regelrecht "bestraft" wurde – da gab’s im Teambus nach dem Rennen böse Blicke und blöde Sprüche. Bei UAE ist das anders. Es gibt einige solche Momente. Einmal sind Domen Novak und Tadej während einer Rundfahrt in Spanien einfach losgefahren und haben eine Minute Vorsprung rausgeholt. Nur um dann anzuhalten und zusammen pinkeln zu gehen. Im Team wurde darüber gelacht – solche Geschichten schweißen zusammen. Natürlich gibt es auch mal Meinungsverschiedenheiten, aber die klären wir schnell. Es herrscht ein starker Teamgeist und es gibt keinen Neid. Ein gutes Beispiel dafür ist mein Verhältnis zu Tim Wellens. Er ist ein ähnlicher Fahrertyp wie ich, mag auch die Frühjahrsklassiker. Ich verbringe so viel Zeit mit ihm – vermutlich mehr als mit meiner Frau! Wir unterstützen uns gegenseitig, es gibt keinerlei Konkurrenzkampf, obwohl wir beide um Erfolge bei den gleichen Rennen kämpfen. Das beste Beispiel ist wohl das Opening Weekend. Am Samstag wurde ich Zweiter beim Omloop, tags drauf wurde er Zweiter bei Kuurne-Brüssel-Kuurne. Im Rennen sagt er dann auch: "Nils, heute will ich losfahren." Und ich sage: "Alles klar, ich fahre für dich." So entsteht Vertrauen – und Teamgeist.
Pogacar wirkt trotz seiner Erfolge immer noch sehr "verspielt". Kann er mit dieser Art auch ruhigere Typen im Team motivieren?
Definitiv! Tadej hat eine unglaubliche Ausstrahlung, die das ganze Team mitreißt. Schon im Trainingslager spürst du seine lockere, aber zielstrebige Art. Er macht keinen Druck, sondern schafft es, dich zu motivieren, ohne dass es sich wie Zwang anfühlt. Ein Beispiel: Einmal haben wir zu ihm gesagt, nachdem er ursprünglich einen Ruhetag geplant hatte: "Nur die wirklich Guten schaffen heute 200 Kilometer." Das ließ er nicht auf sich sitzen. Dann fuhr er 200 Kilometer Vollgas, inklusive Attacken – und wir mussten mitziehen! Ich bin noch nie ein so schnelles Training gefahren. Und ich war noch nie so kaputt nach dem Training, weil er uns für voll genommen hat an dem Tag. Da hat Tadej alles rausgelassen, was ging. Das war unfassbar!
Gibt es dann nicht Stress mit den Coaches, wenn ein Trainingstag mal unerwartet intensiv verläuft – oder einfach komplett anders als geplant?
Nein, überhaupt nicht. Alle im Team – auch die Coaches – ziehen da mit. Wenn ein Trainingstag mal "aus dem Ruder läuft", im positiven Sinne natürlich, dann wird flexibel reagiert. Die Coaches schauen sich die Daten an und passen die Pläne für den nächsten Tag entsprechend an. Sie halten nicht starr an ihren Vorgaben fest, sondern vertrauen uns Fahrern.Unser Teamchef Mauro Gianetti betont das auch immer wieder. Er sagt: "Ich kann euch das beste Material, die besten Coaches und das beste Umfeld bieten, aber Rennen fahren müsst ihr selbst – und das mit Spaß." Dieses Vertrauen spüren wir alle. Gianetti war selbst Fahrer, er kennt die Herausforderungen. Und er sorgt dafür, dass es keinen unnötigen Druck gibt. Das spiegelt sich auch im Teamumfeld wider. Viele unserer Betreuer kommen aus südeuropäischen Ländern wie Italien und Spanien. Diese lockere Mentalität liegt ihnen im Blut. Da wird nicht alles auf die Minute genau durchgetaktet, und diese entspannte Haltung tut uns Fahrern unglaublich gut. Sie sorgt dafür, dass wir unser Potenzial voll ausschöpfen können, ohne dabei die Freude am Sport zu verlieren.
Wie läuft die Kommunikation im Rennen mit Tadej Pogacar? Nutzt er hauptsächlich den Funk oder spricht er auch direkt mit euch?
Tadej ist sehr aktiv über den Funk, aber er scheut sich auch nicht, direkt mit uns zu sprechen. Im Grunde macht er im Rennen oft die Taktik selbst, auch wenn die sportlichen Leiter im Auto sitzen. Es kommt auch vor, dass wir ihn bremsen müssen, wenn er zu früh attackieren will. Oder er bremst uns, wenn wir zu ambitioniert sind. Da gab es zum Beispiel diese Bergetappe, bei der Marc Soler vorne richtig Tempo gemacht hat. Tadej fuhr zu mir zurück und fragte, wie lange ich das Tempo noch mitgehen kann. Dann ging er wieder nach vorne und gab Anweisungen, dass wir so fahren, dass ich noch über den Berg komme, um am nächsten die Führung zu übernehmen. Dieses gegenseitige Vertrauen ist essenziell.
Könnte man ihn als eine Art Spielertrainer bezeichnen?
Absolut. Tadej hat einen unglaublichen Blick fürs Rennen und die Fähigkeit, blitzschnell zu entscheiden, was uns als Team weiterbringt. Sein Vertrauen in uns Fahrer und seine Kommunikation machen ihn besonders. Auch in entscheidenden Momenten bleibt er ruhig – und trifft die richtigen Entscheidungen. Manchmal erkennt er auch Situationen, die uns gar nicht auffallen. Auf der 19. Etappe bei der Tour beispielsweise, als mit Matteo Jorgenson und Wilco Kelderman zwei Visma-Fahrer vorn rausfuhren, erkannte er sofort die Taktik: Sie wollten Vingegaard später nach vorn bringen. Tadej entschied rasch, dass wir ein hohes Tempo fahren müssten, um Vingegaard von den anderen Helfern, die noch bei ihm waren, zu isolieren. Dann wird der nämlich nervös. Das hat hervorragend funktioniert!
Freut ihr euch dann?
Na, du weißt dann schon, dass die Taktik aufgeht. Und wenn Vingegaard kein Team um sich herum hat und nervös wird, lachen wir uns darüber schon mal kaputt. Er sieht sich dann ständig um. Du merkst richtig, wie angespannt er wird. Und dann hat Tadej zu mir gesagt: "You see, he’s nervous, he’s getting nervous, our time will come." Und so war es dann ja auch.
Warst du von deiner eigenen Leistung bei der Tour überrascht?
Ja, besonders in den Bergen. Wir haben uns akribisch vorbereitet, mit vielen Höhenmetern im Training und einem Höhentrainingslager. Dazu kam, dass ich mit meinem Gewicht auf einem Rekordtief war – drei Kilo leichter als im Vorjahr. Zudem liegt mir die dritte Tour-Woche generell, ich komme da so richtig in meinen Rhythmus. Aber die Etappe über die Cime de la Bonette war besonders hart. Als im Funk die Ansage kam: "Nils, jetzt alles, was du hast, für die nächsten fünf bis zehn Minuten", habe ich wirklich bis zum Äußersten gekämpft. Danach war ich komplett ausgepumpt, aber stolz auf das, was ich geschafft hatte. Solche Momente zeigen, wozu man fähig ist, wenn man das Team im Rücken hat – und der Kapitän einem vertraut.
Was sind Deine Ziele für 2025?
Das Niveau von 2024 zu halten, wird sicher eine Herausforderung. Aber ich glaube, dass noch Luft nach oben ist. Mit den Neuzugängen wie Jonathan Narváez und Florian Vermeersch haben wir nächstes Jahr eine noch stärkere Klassiker-Mannschaft. Dazu kommen Leute wie Tim Wellens und ich. Vielleicht auch Tadej, wenn er die Klassiker mitfährt. Das wird spannend, aber auch herausfordernd! Es ist manchmal einfacher, in einem starken Team einen Sieg zu holen, weil man mehr Optionen hat. Mein großes Ziel ist es, irgendwann einen Klassiker zu gewinnen – ich fühle mich dazu auch in der Lage.
Die wirklich wichtigen Radsport-Fragen
Disc oder Felgenbremse?
Discs – die haben einen besseren Bremspunkt und schlicht eine bessere Performance.
Aero oder Leichtbau?
Ein guter Mix aus beidem.
Schlauch oder Tubeless?
Tubeless. Fahren wir im Training und Rennen. Ist einfach die modernere Technologie.
Regen oder Rolle?
Regen – keine Frage! Nur zum Warmfahren vor schweren Bergetappen oder Zeitfahren setze ich mich auf die Rolle.
Socken über oder unter die Beinlinge?
Socken darunter. Drüber war mal ein Trend.
Kaffeestopp oder durchfahren?
Kaffeestopp. Wenn man im Büro arbeitet, macht man schließlich auch mal Pause.
Gravel oder Cyclocross?
Wenn’s in der Nähe ein Cross-Rennen gibt, trete ich schon mal an. Gravel eignet sich besser als Training.
Zwift- oder Straßenweltmeister?
Straßenweltmeister natürlich. Da kann man auch das Trikot bei allen Rennen tragen.
Bergauf oder bergab?
Im Training bergauf, im Rennen bergab.
Wout van Aert oder Mathieu van der Poel?
Beides Topfahrer, die sich in Nuancen unterscheiden. An Mathieu mag ich den unberechenbaren, aggressiven Fahrstil. © Bike-X