- Die Frau liegt in den Wehen, das Kind hat sich verletzt: Wer in derartigen Situationen ins Krankenhaus unterwegs ist, sieht sich in einer Ausnahmesituation.
- Dürfen Autofahrer dann die erlaubte Geschwindigkeit übertreten?
"Wenn meine Frau mit Wehen im Auto liegt, muss ich doch so schnell wie möglich ins Krankenhaus!" So denken in derartigen Situationen womöglich viele, drücken aufs Gas und überschreiten die erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Was passiert, wenn man in solch einer Situation geblitzt wird?
Ausnahmefälle, in denen eine Strafe bei Tempoverstoß erlassen wird, gibt es tatsächlich - doch es sind weniger, als die meisten wohl annehmen. Wieder einmal zeigt das ein aktueller OLG-Beschluss, auf den der ADAC hinweist.
Der Fall: Ein Arzt war mit seinem Wagen außerorts 40 km/h zu schnell unterwegs gewesen und geblitzt worden. Gegen das Bußgeld erhob er Einspruch. Seine Begründung: Er hatte seine schwangere Frau ins Krankenhaus gefahren, die in einem lebensbedrohlichen Zustand gewesen sei. Da in der Corona-Pandemie ein Krankenwagen besonders aufwendig desinfiziert werden muss, würden dadurch Kapazitäten gebunden, erklärte er. Zudem wisse er als Arzt, dass es bis zum Eintreffen des Krankenwagens mindestens 15 Minuten gedauert hätte. Mit dem Privatauto sei er schneller gewesen.
Arzt verliert vor Gericht: Situation kein absoluter Ausnahmefall
Die Sache ging vor Gericht - doch der Arzt verlor. Zwar kann von der Ahndung eines Tempoverstoßes abgesehen werden, wenn eine Notstandslage gegeben war. Doch eine solche sah das Oberlandesgericht Düsseldorf hier nicht.
Der Tempoverstoß wäre erst dann ein geeignetes Mittel gewesen, wenn alle anderen Mittel nicht verfügbar gewesen wären. Der Fahrer hatte aber eben darauf verzichtet, den Krankentransport anzufordern. Das Argument, der Krankenwagen brauche viel länger als der Arzt im Privatauto, überzeugte das Gericht nicht. In einer lebensbedrohlichen Situation wäre ein Rettungswagen geschickt worden - und aufgrund von Sonderrechten hätte dieser schnell vor Ort sein können.
Auch die Argumentation der zeitaufwendigen Desinfektion überzeugte die Richter nicht: Das Leben eines Menschen könne nicht mit Hygienemaßnahmen aufgewogen werden. Ein Tempoverstoß bei Privatfahrten sei nur in absoluten Ausnahmefällen hinnehmbar.
Wann liegt ein Notstand vor?
Ein solcher Ausnahmefall tritt ein, wenn ein sogenannter Notstand vorliegt. Er kann eine Ordnungswidrigkeit wie den Verstoß gegen das Tempolimit rechtfertigen. Dass ein blutender Finger nicht dazugehört, zeigte ein Urteil des Amtsgerichts Frankfurt, auf das die Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) hinweist.
Eine Frau hatte sich beim Kochen mit den Kindern in den Finger geschnitten. Die Wunde blutete stark. Da die Verletzte wenige Monate zuvor bei Schmerzen im Unterleib rund 40 Minuten auf den Krankenwagen hatte warten müssen, entschied ihr Ehemann, sie selbst ins Krankenhaus zu fahren.
Dabei wurde er in einer Tempo-30-Zone mit mindestens 80 km/h geblitzt. Gegen die Geldbuße von 235 Euro und das Fahrverbot von einem Monat wehrte er sich und ging vor Gericht. Ohne Erfolg: Weder Gefahr um Leib und Leben noch Komplikationen seien zu erwarten gewesen, deshalb erkannte das Gericht in diesem Fall keinen Notstand.
Was bedeutet Notstand laut Gesetz?
Tatsächlich scheitern viele mit einem Einspruch, wenn sie in einer Situation, die aus ihrer Sicht ein "Notfall" war, geblitzt wurden. "Die Ehefrau in den Wehen, ein starker Stuhldrang und Durchfall - das alles heißt noch lange nicht, dass ein Notstand vom Gericht bejaht wird", sagt Albert Cermak, Fachanwalt für Verkehrsrecht in München, im Gespräch mit unserer Redaktion. Ein Notstand bedeute im Prinzip: "Es besteht Gefahr um Leib und Leben. Oder im Falle der schwangeren Frau: Die Geburt steht unmittelbar bevor."
Der Hintergrund: Durch die Überschreitung der Geschwindigkeit gefährdet der Fahrer Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer - und muss das gegen die eigene Situation abwägen. Als Fahrer müsse man sich dessen bewusst sein, dass der Einzelfall sehr genau geprüft werde. Für die Richter sei dabei auch entscheidend, ob der Geschwindigkeitsverstoß auch einen Effekt gehabt habe, also dazu beitragen konnte, dass etwa ein Leben gerettet wurde.
Anerkannt wurden Notstände in der Rechtsprechung beispielsweise in diesen Fällen:
- Ein Fahrer wurde von angetrunkenen Fahrgästen massiv bedroht, es war keine Hilfe erreichbar und durch sein kurzfristiges zu schnelles Fahren waren auch keine Gefahren für andere zu erwarten (Oberlandesgericht [OLG] Düsseldorf).
- Ein Mann fuhr einem Lkw nach, um dessen Fahrer auf seine herabfallende Ladung aufmerksam zu machen (OLG Düsseldorf).
- Weil ein Auffahrunfall gedroht und der Fahrer deshalb beschleunigt hatte, gab das OLG Hamm dem Einspruch des Mannes statt.
Zu schnell gefahren: Kompromiss bei "notstandsähnlicher" Situation
Bescheide zu Bußgeld und Fahrverbot erhalten Autofahrer nach einer Geschwindigkeitsübertretung von der Polizei oder von der Stadt oder Gemeinde - je nachdem, wer die Messung durchgeführt hat. "Es kann sich lohnen, Einspruch einzulegen. Dies muss innerhalb von 14 Tagen geschehen. Die Umstände können direkt gegenüber der Behörde vorgebracht werden. Erfahrungsgemäß findet man meistens aber erst vor Gericht ein offenes Ohr für besondere Einzelfallumstände", sagt Cermak. Wird der Fall als Notstand anerkannt, entfallen sowohl Bußgeld als auch Regelfahrverbot.
"Manchmal kommt es auch zu einem Kompromiss, wenn eine 'notstandsähnliche' Lage erkannt wird", erläutert der Fachanwalt. Dann entfalle das Fahrverbot, und der Fahrer müsse lediglich das Bußgeld zahlen.
Vorsicht: Einspruch kann auch nach hinten losgehen
Vor einem warnt Cermak aber: "Ist ein Autofahrer bis zu 50 Prozent der zugelassenen Geschwindigkeit zu schnell unterwegs, wird von einem fahrlässigen Verstoß ausgegangen. Argumentiert der Fahrer aber, es habe sich um einen Notstand gehandelt und die Behörde muss somit von einem vorsätzlichen Verstoß ausgehen - dass der Fahrer also in voller Absicht zu schnell unterwegs war - kann sich das Bußgeld verdoppeln." Dies sei der Fall, wenn das Gericht keinen Notstand erkennt. Ob man wirklich Einspruch einlegen sollte, sei also genau zu überlegen.
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Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Albert Cermak, Fachanwalt für Verkehrs- und Arbeitsrecht in München
- dpa
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