Wenn Kraftsport den Alltag dominiert, der durchtrainierte Körper trotzdem als schmächtig wahrgenommen wird, kann eine Störung dahinter stecken. Wie erkennt man die sogenannte Bigorexie und wo finden Betroffene Hilfe?
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Heute finden viele junge Menschen ihre Fitness-Idole überwiegend in den sozialen Medien. Millionen folgen Influencern wie
Viele Fitness-Stars haben längst eine eigene Marke. Das Geschäft mit der Fitness boomt – eigentlich eine positive Entwicklung. Immerhin motivieren berühmte "Gym Bros" und "Gym Girls" ihre Follower zu einem aktiveren Lebensstil und teilen neben werblichen Inhalten auch viele nützliche Trainings- und Ernährungstipps. Zahlreiche Studien belegen die positiven Auswirkungen einer starken Muskulatur auf die körperliche und mentale Gesundheit und auf die Langlebigkeit.
Muskelsucht betrifft vor allem junge Männer
Wenn aber die Balance kippt und Training und Diätpläne den Tagesablauf dominieren oder sogar bei Krankheit trainiert wird und der gestählte Körper trotzdem als schmächtig wahrgenommen wird, könnte eine Muskeldysmorphie, auch Bigorexie genannt, vorliegen. Weil überwiegend junge Männer von der Muskelsucht betroffen sind, wird die verzerrte Selbstwahrnehmung umgangssprachlich auch Adonis-Komplex genannt.
Bei einer Umfrage im Auftrag der AOK gaben 38 Prozent der 18- bis 19-jährigen männlichen Befragten an, sich als zu leicht im Sinne von zu wenig muskulös wahrzunehmen. Gemessen an den Werten, die aus Alter, Größe und Gewicht ermittelt wurden, entsprach diese Wahrnehmung nur bei acht Prozent der Realität.
Doch auch Erwachsene können betroffen sein. Der ehemalige französische Fußball-Nationalspieler Bixente Lizarazu machte seine Sport- und Muskelsucht unlängst öffentlich. 18 Jahre nach dem Ende seiner Karriere als Profisportler trainiert der 55-Jährige weiterhin auf Spitzenniveau. Er selbst bezeichnet sich als kranken Mann.
Was ist Bigorexie?
Die Muskeldysmorphie ist eine spezielle Form der Körperdysmorphie (unter der etwa auch Robbie Williams leidet), also eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers. Betroffene sind übermäßig auf den Erhalt und Aufbau ihrer Muskulatur fixiert, die sie auch bei starker Ausprägung als schwach wahrnehmen.
Zwar klingt Muskelsucht zunächst vergleichsweise harmlos, unbehandelt kann sie jedoch gefährlich für die körperliche und psychische Gesundheit werden: Depressionen, Essstörungen, Suizidgedanken, Rückzug aus dem Sozialleben und Vernachlässigen von Schule oder Beruf sind mögliche Folgen.
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"Aufgrund der ständigen Sorge, dass der eigene Körper nicht muskulös genug ist, beginnen die Betroffenen oft, exzessiv Sport zu treiben. Gleichzeitig wird häufig versucht, über spezielle, insbesondere proteinreiche und fettarme Diäten das muskulöse Körperideal zu erreichen. Das kann bis hin zur Einnahme leistungssteigernder und muskelaufbauender Substanzen gehen", sagt Diplom-Psychologin Eveline Müller vom Therapienetz Essstörung in München.
Den Leidensdruck sieht man den vital wirkenden Menschen oft nicht an. Aber: "Durch die ständige Sorge über ihr eigenes Aussehen können Betroffene intensive Gefühle von Angst und Verzweiflung entwickeln", so Müller.
Intensives Training oder schon eine Muskeldysmorphie?
Doch wo liegt die Grenze zwischen diszipliniertem Training und krankhafter Muskelsucht? Eveline Müller betont, dass allgemeine Informationen keine individuelle Einschätzung oder Diagnose ersetzen. Handlungsbedarf sieht sie, wenn das Training und die Beschäftigung mit dem eigenen Körper zwanghaft werden und der Alltag darunter leidet.
Auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung rät, professionelle Hilfe aufzusuchen, wenn alle oder einige der aufgezählten Punkte zutreffen:
- Training und Ernährung dominieren den Tagesablauf und die Gedanken.
- Soziale Kontakte, Schule oder Beruf werden für das Training vernachlässigt.
- Die körperliche und psychische Gesundheit werden durch Übertraining oder den Missbrauch von Anabolika und Nahrungsergänzungsmitteln gefährdet.
- Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper ist trotz offensichtlicher Trainingserfolge permanent spürbar.
- Der Leidensdruck ist hoch.
Wie sollten sich Familie und Freunde verhalten?
Menschen aus dem näheren Umfeld versuchen oft, Betroffenen durch gutgemeinte Ratschläge die Augen zu öffnen – meist ohne Erfolg. Eveline Müller rät Angehörigen und Nahestehenden, sich verständnisvoll und geduldig zu verhalten: "Veränderungen erfordern oft Zeit und der erste Schritt muss von den Betroffenen selbst kommen."
Hilfreich sei auch, Gespräche anzubieten, die nicht wertend oder belehrend sind und Betroffenen Möglichkeiten zur Unterstützung aufzeigen, beispielsweise, indem der Kontakt zu einer Beratungsstelle hergestellt wird.
"Die Behandlung von Muskeldysmorphie folgt einem ganzheitlichen Ansatz, der auf körperliche, psychische und soziale Aspekte eingeht", sagt Eveline Müller. Dazu zählen:
- Psychotherapie: Insbesondere kognitive Verhaltenstherapie, um das verzerrte Selbstbild und zwanghaftes Verhalten zu bearbeiten.
- Gruppentherapie: Austausch mit anderen Betroffenen, um soziale Unterstützung zu fördern.
- Medizinische Begleitung: Behandlung von gesundheitlichen Schäden, die durch Übertraining, restriktives Essverhalten oder Substanzmissbrauch entstanden sind.
- Ernährungsberatung: Entwicklung eines ausgewogenen und gesunden Essverhaltens.
Verzerrte Selbstwahrnehmung durch soziale Medien
Vor allem für Heranwachsende kann ein intensiver Medienkonsum, insbesondere von sozialen Medien wie Instagram oder TikTok, gravierende gesundheitliche Auswirkungen haben und zu einer verzerrten Selbstwahrnehmung führen. 40 Prozent der befragten Jugendlichen gaben in der AOK-Umfrage an, sich unter Druck zu fühlen, schöner und erfolgreicher zu werden.
"Influencer und Influencerinnen können oft unrealistische Körperideale transportieren und suggerieren, dass Nahrungsergänzungsmittel notwendig sind, um diese zu erreichen", sagt auch Eveline Müller. Sie befürwortet Präventionsarbeit und Aufklärungskampagnen, die über Risiken von Nahrungsergänzungsmitteln informieren und psychologische Beratung und Workshops in Schulen, um Jugendliche zu sensibilisieren.
Spezifische Programme wie die vom Therapienetz Essstörung zielen darauf ab, Medienkompetenz, Selbstwertgefühl, Selbstakzeptanz, Selbstwahrnehmung und die Resilienz junger Menschen zu stärken. Maßnahmen für Eltern, Lehrkräfte und Fachkräfte sind darauf ausgerichtet, erste Warnzeichen zu erkennen, damit sie schon frühzeitig Hilfe anbieten können.
Hier finden Betroffene Hilfe
- Viele Beratungsstellen bieten ihr Angebot telefonisch, vor Ort oder online an – auf Wunsch auch anonym. Die Datenbank der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung informiert über Beratungsstellen in der Nähe und berät Betroffene und Angehörige auch telefonisch.
Über die Gesprächspartnerin
- Diplom-Psychologin Eveline Müller ist Psychologische Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Supervisorin und Lehrtherapeutin. Seit 2012 ist sie Gesamttherapeutische Leitung im Therapienetz Essstörung in München, das sich an Menschen mit Essstörungen und den oft damit verbundenen weiteren psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Borderline und Trauma richtet.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Eveline Müller vom Therapienetz Essstörung
- National Library of Medicine: Muscle Mass Index as a Predictor of Longevity in Older-Adults
- Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Muskelsucht
- Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Datenbanksuche Beratungsstellen
- AOK-Umfrage: Social Media verzerrt Selbstbild junger Menschen
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