- Ab 8. Februar öffnet Österreich die Schulen, die Geschäfte, einige Dienstleister wie Frisöre sowie Museen und Bibliotheken.
- Die Infektionslage bleibt allerdings angespannt: Der bisherige Lockdown hat sein Ziel weit verfehlt, die 7-Tages-Inzidenz liegt über 100, Tendenz nur schwach sinkend.
- Eine Politikwissenschaftlerin erklärt, warum sich Bundeskanzler Sebastian Kurz über seine eigenen und die Bedenken seiner medizinischen Berater hinwegsetzt.
Sein Ziel hat Österreichs dritter Lockdown meilenweit verfehlt, trotzdem wird er ab nächster Woche gelockert:
Schulen, Geschäfte und Frisöre auf, auch Museen und Bibliotheken, dafür verschärfte Einreisekontrollen, FFP2-Maskenpflicht, höhere Strafen und viel mehr Tests – das sind die Rahmenbedingungen für den "Ritt auf der Rasierklinge", den Kurz' ÖVP-Parteifreund Hermann Schützenhöfer, Landeshauptmann der Steiermark, für die nächsten Wochen prophezeit.
Denn die Zahlen geben eine Lockerung eigentlich nicht her: Ab einer 7-Tages-Inzidenz von 50 wollte die Regierung über Öffnungen nachdenken, aktuell liegt der Wert bei 104, Tendenz nur leicht sinkend. Derweil machen sich die Mutationen in Österreich breit und den Virologen Sorgen.
Warum Kurz trotzdem auf Risiko spielt, erklärt Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle von der FH Kärnten im Gespräch mit unserer Redaktion so: "Es sind vor allem zwei Debatten entscheidend: Zum einen die Meldungen über die psychischen Belastungen für die Kinder im Lockdown. Und zum Zweiten der Druck aus der Wirtschaft."
"Die Stimmung kippt"
Stundenlang beriet sich die Regierung am Montag mit Virologen, bevor sie ihre Entscheidung traf – und wie die gewöhnlich gut informierte Zeitung "Heute" berichtet, rieten diese angesichts der Mutationen zur Vorsicht. "Der sicherste Weg wäre, im Lockdown zu verharren", räumte auch der Bundeskanzler auf der Pressekonferenz ein.
Aber er wählt sehenden Auges das Risiko, weil er zu spüren scheint, dass sich etwas bewegt im Land. "Die Stimmung kippt", so hatte es Tirols Landeshauptmann Günther Platter vor einer Woche im ORF ausgedrückt.
Dieser Befund habe eine Rolle gespielt bei den Lockerungen, meint auch Kathrin Stainer-Hämmerle. "Auch wenn das nicht so sein sollte." Sie beobachtet, dass sich viele Menschen nicht mehr an die Maßnahmen halten. "Das liegt auch daran, dass die Regierung schlecht kommuniziert hat. Nur ein Beispiel: Wir dürfen Ski fahren, aber nicht ins Museum."
Regierungslinie immer unpopulärer
Das "Austria Corona Panel", in dem Forscher seit dem ersten Lockdown im März 2020 die Zustimmung zu den Regierungsmaßnahmen erheben, verzeichnet seit Wochen "eine gewisse Pandemiemüdigkeit". Nur ein Drittel der Befragten findet die Corona-Politik angemessen, rund 28 Prozent plädieren für mehr Härte, 36 Prozent für Lockerungen. Mobilitätsdaten zeigen: Die Österreicher schränken sich viel weniger ein als noch im ersten "harten" Lockdown im März 2020.
Am Wochenende demonstrierten rund 10.000 Menschen in Wien trotz Verbots gegen die Maßnahmen, wie in Deutschland angeführt von einer Mischung aus Neonazis, Verschwörungsideologen und Esoterikern, aber auch wütende Gastronomen und andere Unternehmer marschierten mit.
Kanzler Kurz reklamiert gerne für sich, den Mut für unpopuläre Entscheidungen zu haben, so wie zuletzt im Herbst, als er den zweiten Lockdown verkündete. Nun scheint es, als gebe er der Stimmung im Land nach. Allerdings nur auf den ersten Blick, meint Kathrin Stainer-Hämmerle: "Er achtet darauf, dass er nicht gegen seine eigene Klientel handelt."
Kurz' ÖVP stützt sich traditionell auf die Wirtschaft und die Industrie, denen die Regierung in einigen Punkten entscheidend entgegengekommen ist: So gilt in Österreich keine Homeoffice-Pflicht und die mächtigen Seilbahner dürfen die Skilifte laufen lassen.
Nun darf auch der Handel wieder öffnen, der heftig lobbyiert hatte, aber auch vor großen Problemen steht: Laut Handelsverband stehen ein Drittel der Betriebe vor der Pleite, die Pandemie hat den Konkurrenzdruck durch die Online-Versandriesen noch verstärkt. Tausende Arbeitsplätze sind in Gefahr, die nächste Hiobsbotschaft für die Regierung, die ohnehin schon mit den höchsten Arbeitslosenzahlen seit dem Zweiten Weltkrieg zu kämpfen hat.
Der nächste harte Lockdown ist eingepreist
So wie die Öffnung des Handels ein Zugeständnis von Kurz an die eigene Klientel gewesen sei, so interpretiert Politikwissenschaftlerin Stainer-Hämmerle die Öffnung der Schulen als Zugeständnis an die Bundesländer und die Opposition.
Besonders die liberalen Neos, in Wien in einer Koalition mit der SPÖ, machen immer wieder auf die psychischen Belastungen für Schulkinder und ihre Familien aufmerksam, zuletzt häuften sich Medienberichte über vermehrte Einweisungen, die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Wiener AKH erklärte sich für "überfüllt".
Kurz hat diese Debatten offenbar wahrgenommen, die Schulöffnungen seien eine "Herzensangelegenheit", sagte er. Was er nicht sagte: Sie sind auch eine Zitterpartie. In anderen Ländern beschleunigten offene Schulen das Pandemiegeschehen; in Österreich will die Regierung das mit zwei Maßnahmen verhindern: Lehrer und Schüler werden regelmäßig getestet, die Klassen oberhalb der Grundschule starten im Schichtbetrieb.
Kalkuliertes Risiko, das ist Sebastian Kurz' Modell – ob er richtig gerechnet hat, wird sich spätestens in zwei Wochen zeigen, dann kommt die Regierung zu einer Zwischenbilanz zusammen und diskutiert, ob auch Gastronomie, Kultur und Sport geöffnet werden können. Aber auch den Worst Case hat Kurz schon formuliert: "Wenn die Zahlen exponentiell steigen, werden wir sofort wieder verschärfen müssen."
Verwendete Quellen:
- Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit: Covid-19-Dashboard.
- Universität Wien: Austrian Corona Panel Projekt
- Pressekonferenz der Bundesregierung vom 1. Februar 2021
- heute.at: Newsletter von Chefredakteur Christian Nusser
- orf.at: Immer mehr Kinder leiden unter Lockdown.
- orf.at: Platter für Offenhalten von Skigebieten
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