Die Schwächsten der Gesellschaft leiden am meisten unter dem Coronavirus. Deutschlandweit gab es zuletzt dutzende, teils hunderte Neuinfektionen in Gemeinschafts- und Flüchtlingsunterkünften. Doch das Phänomen geht darüber hinaus, wie Nachfragen unserer Redaktion bei Medizin- und Armutsexperten zeigen.
Die Kurve flacht ab. Die erste Welle der Coronavirus-Pandemie in Deutschland scheint vergleichsweise glimpflich verlaufen zu sein. Doch trotz langsamer Rückkehr in die Normalität liegen nach wie vor Corona-Infizierte in Deutschlands Kliniken und Intensivstationen. Hunderte kämpfen gegen das Virus. Und immer wieder flackern Hotspots auf, Orte in denen die Zahl von Neuinfektionen in die Höhe schnellen.
"Insgesamt sehen wir nach zwei Monaten Behandlung von COVID-19-Patienten, dass es eine sehr starke soziale Komponente bei dieser Krankheit gibt", sagte Cihan Çelik am Wochenende der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ). Çelik ist Arzt auf einer COVID-19-Isolierstation am Klinikum Darmstadt und betont: "Gerade Patienten, die zu Minderheiten gehören und sozial schwach sind, sind bei der Morbidität und der Mortalität am stärksten betroffen."
Was steckt dahinter? Erkranken und sterben in Deutschland wirklich vor allem arme Menschen am Coronavirus – trotz sozialem Krankenversicherungssystem und guter ärztlicher Versorgung? Unsere Redaktion hat bei Kliniken und Experten nachgefragt.
In den Antworten wird klar: Daten zum sozioökonomischen Hintergrund von Corona-Infizierten und -Toten in Deutschland gibt es nicht. Fachleute erkennen allerdings eine deutliche Tendenz.
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Butterwegge: "Wer arm ist, muss eher sterben"
"Wer arm ist, muss eher sterben – das galt auch schon vor dem Coronavirus", sagt der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge im Gespräch mit unserer Redaktion. Butterwegge steht der Linkspartei nahe und macht seit Jahren auf die steigende Ungleichheit in Deutschland aufmerksam.
"Die Einkommens- und Finanzschwachen sind besonders betroffen, weil sie oft auch zu den Immunschwachen gehören", erklärt Butterwegge. Er und Mediziner verweisen dabei auf Untersuchungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zum Einfluss des sozialen Status auf die Gesundheit und Lebenserwartung.
Das RKI schreibt dazu auf seiner Internetseite: "Personen mit niedrigem Sozialstatus sind vermehrt von chronischen Krankheiten, psychosomatischen Beschwerden, Unfallverletzungen sowie Behinderungen betroffen. (...) Die Effekte der sozialen Benachteiligung kumulieren im Lebensverlauf und finden demzufolge auch in der vorzeitigen Sterblichkeit einen deutlichen Ausdruck."
Das soziale Umfeld spielt eine Rolle
Doch gilt das ebenso und insbesondere für das Coronavirus? "Bei SARS-CoV-2 und COVID-19 scheint das soziale Umfeld eine Rolle zu spielen", erläutert Tobias Kurth, Professor für Bevölkerungsgesundheit und Epidemiologie sowie Direktor des Institute for Public Health der Berliner Charité, unserer Redaktion. Bestimmte Arbeitsbedingungen und Lebensverhältnisse würden Infektionen begünstigen, wie etwa die Situation in den Schlachthöfen mit ihren engen Lebensverhältnissen.
In mehreren fleischverarbeitenden Betrieben war es in den vergangenen Wochen zu Ausbrüchen des Coronavirus gekommen, darunter in Bad Bramstedt, Bogen, Dissen, Coesfeld und Birkenfeld. Dazu kommen Infektionsherde in Gemeinschafts- und Sammelunterkünften für Geflüchtete, wie etwa in St. Augustin, Ellwangen und Rosenheim. Bewohner und Mitarbeiter trifft die Erkrankung gleichermaßen.
Das Virus könne sich rasch ausbreiten, wenn es einmal in die Unterkunft gelangt sei, sagte der Bielefelder Forscher Kayvan Bozorgmehr der Deutschen Presse-Agentur. Er hat in einer Studie das Ansteckungsrisiko in Flüchtlingsunterkünften untersucht.
Kleine Räume für mehrere Personen, Gemeinschaftsküchen, wenige Toiletten und Duschen für viele Bewohner seien in der Pandemie hochproblematische Lebensbedingungen, betonte der Gesundheitswissenschaftler. Die nötige strikte Isolierung infizierter Flüchtlinge von Nicht-Infizierten sei aus räumlichen Gründen oft nicht möglich.
Repräsentative Daten fehlen
Dass sich das Virus unter jenen schnell ausbreitet, die auf engstem Raum zusammenleben, liegt nahe. Aber betrifft das auch Hartz-IV- oder Sozialhilfeempfänger, die in den meisten Fällen in normalen Wohnungen leben?
"Uns fehlen repräsentative Daten aus der Bevölkerung, um eine allgemeine Aussage zum Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Hintergrund eines Patienten und seiner COVID-19-Erkrankung machen zu können", erklärt Epidemiologe Kurth. Wenn allerdings bestimmte soziale Gruppen oder Berufsfelder vom Coronavirus besonders betroffen wären, "wäre uns dies schon aus den vorhandenen Daten aufgefallen", ergänzt er.
Am Klinikum Rechts der Isar der TU München werde der sozioökonomische Status von Corona-Patienten ebenso wenig systematisch erhoben. "Weil er im Grunde für die Qualität der Behandlung auch nicht erheblich ist", wie der Infektiologe Christoph Spinner auf Anfrage unserer Redaktion erklärte.
Ähnlich antwortete das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Gegen die Erhebung würden auch datenschutzrechtliche Bedenken und die geringe Fallzahl sprechen. Man vermute aber einen generellen Zusammenhang. Selbst international gebe es derzeit laut Kurth keine wissenschaftlichen Publikationen, die sich dem Thema widmet.
Was es aber gibt, sind starke Hinweise, nicht zuletzt aus den USA. So veröffentlichte die Gesundheitsbehörde von New York am Montag die Corona-Todesrate nach Postleitzahl. Die Daten zeigten eine dramatische Ungleichheit, schrieb der Vorsitzende des örtlichen Gesundheitsausschusses, Mark D. Levine, auf Twitter. Die Todesrate in ärmeren Gegenden, wo viele Schwarze leben, sei "mehr als zehn Mal höher als in wohlhabenderen Gegenden".
"Das Virus macht keinen Unterschied nach sozioökonomischem Status"
Einen Grund dafür sieht der Armutsforscher Butterwegge bei den Vorerkrankungen: "Die sind bei Armen in der Regel ausgeprägter als bei Wohlhabenden." Diese Sicht teilt der Darmstädter Klinikarzt Çelik.
Er sagte der FAZ: "Fettleibigkeit kann zu einem schweren Verlauf führen, das ist vor allem in sozial schwachen Schichten ein Problem, genau wie ein Mangel an gesundheitlicher Aufklärung, an gesunder Ernährung, an Sport." Symptome werden ihm zufolge auch oft erst später erkannt oder ernst genommen.
Charité-Epidemiologie Kurth sieht hingegen keine Vorerkrankung die "hervorsticht". Er betont: "Egal ob Übergewicht, Asthma oder andere Lungenvorschäden: Es gibt nicht die Vorerkrankung, die den Verlauf deutlich negativ beeinflusst." Ein Risikofaktor sei allerdings das Alter, wahrscheinlich auch das männliche Geschlecht.
Und: "Das Virus macht keinen Unterschied nach sozioökonomischem Status", sagt Kurth. Die Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren, ist bei jedem Menschen gleich. Wie dann aber das Virus wirkt, hängt von individuellen Umständen ab.
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