Österreich macht es vor: Aus dem Notbetrieb soll dort wieder in den Normalbetrieb geschaltet werden. Auch hierzulande wird über eine Exit-Strategie aus den Corona-Maßnahmen diskutiert. Doch das Risiko ist groß – genauso wie die Unterschiede in vielen Detailfragen.

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Deutschland geht in die dritte Woche des Lockdowns. Noch bis mindestens 19. April gelten die umfassenden Ausgangsbeschränkungen und flächendeckenden Einschränkungen. Bund und Länder versuchen mit den Maßnahmen, die Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie zu bremsen, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern.

Zwar vermeiden Kanzlerin Angela Merkel und ihr Kabinett eine Diskussion um den richtigen Zeitpunkt eines Ausstiegs aus dem Lockdown. Die Debatte über das Ende der Corona-Maßnahmen und insbesondere das Wie werden dennoch intensiv geführt.

Denn schon jetzt ist klar: Dieser Tag wird zwangsweise kommen müssen – früher oder später. Jeder Weg birgt ein großes politisches und gesellschaftliches Risiko. Vor allem eines soll unbedingt verhindert werden: Eine zweite, womöglich noch größere Welle von Corona-Infektionen.

Ob Mediziner oder Ökonom: Auf den ersten Blick ähneln sich die bisher veröffentlichten Strategien durchaus, in Detailfragen hingegen gibt es teils große Unterschiede.

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Exit-Strategie der Bundesregierung: Testkapazitäten erhöhen und hoffen auf eine Handy-App

Bisher ist der Plan der Bundesregierung zum Ende der Corona-Einschränkungen sehr vage. Aus Gründen: Merkel stellte erneut am Montagnachmittag auf einer Pressekonferenz klar, dass es derzeit noch zu früh sei, die strengen Regelungen zu lockern. Die Bundesregierung denke aber "intensiv", "Tag und nach Nacht" über diese Frage nach.

Das Bundesinnenministerium (BMI) mahnt in einem Strategiepapier ein baldiges Ende des Lockdowns an. "Nur mit einem absehbaren Ende der Ausgangsbeschränkungen kann eine Rückkehr zum bisherigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben gewährleistet werden", heißt es in der Analyse. Diese stützt sich unter anderem auf Einschätzungen des Robert-Koch-Instituts sowie von Wissenschaftlern des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und vom RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung.

Das BMI warnt aber zugleich vor den weitreichenden Gefahren einer zu frühen und planlosen Öffnung. So müssten schon vorher Testkapazitäten "massiv hochgefahren" werden. Nach dem Lockdown, dessen Ende in dem Papier auf den 20. April datiert ist, müssten täglich 200.000 Tests gemacht werden, dazu komme eine "effiziente und gut eingespielte" Kontaktermittlung von Infizierten, auch mit Hilfe von technischen Lösungen, beispielsweise durch "Location Tracking". Das gemeinnützige Portal "Frag den Staat" hat das Mitte März erstellte 17-seitige Dokument am 1. April veröffentlicht.

Tatsächlich soll eine freiwillige Handy-App Teil der Exit-Strategie der Bundesregierung sein, wie Kanzleramtschef Helge Braun am Montag in der NTV-Sendung "Frühstart" erklärte. Die geplante Tracking-App zur Analyse der Corona-Infektionswege sei Braun zufolge sehr bald einsatzbereit, schon in den kommenden Tagen oder spätestens Wochen. Zu den Voraussetzungen für Lockerungen zählen zudem mehr Intensivbetten und mehr Personal für die Gesundheitsämter, sagte der CDU-Politiker.

Bei der laut Merkel in jedem Fall "schrittweisen Öffnung" des öffentlichen Lebens stehe der Gesundheitsschutz "immer im Vordergrund". Aber auch nach dem Lockdown müsse ihr zufolge betont werden: "Wir leben weiter in der Pandemie, das Virus wird nicht verschwunden sein." Am Dienstag nach Ostern, dem 14. April, werden Merkel und die Ministerpräsidenten die Lage gemeinsam neu bewerten.

Virologen: Lockdown aussitzen, flächendeckend testen, stufenweise öffnen

Auch aus Sicht von Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité, könnten Handy-Apps einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, ins normale Leben zurückzukehren.

Dabei stützt sich Drosten auf eine Studie des Oxford Big Data Institute, wonach die breite Verwendung einer Anti-Corona-App effektiver als ein kompletter Lockdown oder ein Wechsel zwischen Ausgangsbeschränkungen und normalem Leben über einen längeren Zeitraum sein könnte.

Das Kernproblem: Aufgrund der derzeit hohen Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus müssten in Deutschland wohl deutlich mehr als 60 Prozent der Bevölkerung die Software nutzen, wie Drosten am Freitag im NDR-Podcast "Coronavirus-Update" erläuterte. Derzeit seien die beschlossenen Maßnahmen sehr breit angelegt, künftige werde es darum gehen, "die Wirkung wieder etwas spezifischer zu machen". Eine entscheidende Rolle könnten dabei auch (Schnell-)Tests auf das Coronavirus sein.

Der Virologe Alexander Kekulé, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie am Universitätsklinikum Halle/Saale, spricht sich dafür aus, die Einschränkungen des öffentlichen Lebens bald zu lockern. Denn auch im "absoluten Super-Erfolgsfall" gebe es erst in einem Jahr einen Impfstoff gegen das Coronavirus, erklärte Kekulé in einem Interview vergangene Woche in der "Zeit".

"Wir müssen allerdings diesen Lockdown aussitzen, bis das exponentielle Wachstum der Fälle durchbrochen ist", betonte Kekulé. Mit der Öffnung des Lockdowns könne man womöglich in drei bis vier Wochen beginnen.

Danach müsse man "eine langsame Immunität ohne Impfstoff hinbekommen", verbunden mit flächendeckenden Tests, Verbot von Massenveranstaltungen, Mundschutz-Pflicht und einem besonderen Schutz der Risikogruppen. Kekulé würde zuerst Menschen unter 20 Jahren "wieder rauslassen", auch Schulen und Kindergärten öffnen, Lehrer und Betreuer "gezielt schützen" und schnell testen. "Und dann müssen wir das nach Risikogruppen stufenweise hochfahren."

Wirtschaftsexperten: Schulen und Kitas zuerst aufmachen

Auch die meisten Ökonomen befürworten ein rasches Ende des Lockdowns. So haben 14 Wirtschaftswissenschaftler, Mediziner, Psychologen und Juristen unter Federführung des Ifo-Instituts "Empfehlungen für eine flexible, risikoadaptierte Strategie" ausgearbeitet. Eines der darin formulierten Ziele ist es , "wirtschaftliche Aktivitäten möglich zu machen, ohne unnötige gesundheitliche Risiken einzugehen" – eine Gratwanderung.

Die Experten haben trotzdem und "unter Beachtung der Vorsichtsmaßnahmen des Gesundheitsschutzes" Kriterien für eine Öffnung des Lockdowns erarbeitet:

  • "Sektoren mit niedriger Ansteckungsgefahr" sollten demnach zuerst geöffnet werden, etwa hochautomatisierte Fabriken, sowie Kitas und Schulen.
  • Gleiches gelte für Regionen mit "niedrigeren Infektionsraten und weniger Verbreitungspotential" sowie freien Kapazitäten in der Krankenversorgung.
  • Unternehmen und Betriebe, in denen weniger gut mit Homeoffice und digitalen Techniken gearbeitet werden kann, sollten dem folgen. Ebenso Bereiche mit hoher Wertschöpfung, zum Beispiel Teile des verarbeitenden Gewerbes.
  • "Beschränkungen, die hohe soziale oder psychische Belastungen implizieren, sollten vorrangig gelockert werden", schreiben die Forscher.
  • Zuletzt folgen jene Bereiche und Regionen, die eine hohe natürliche Immunität ausgebildet haben.

Ein ähnliches Vorgehen empfiehlt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in einem am Samstag veröffentlichten Papier. Demnach müsse zuerst die Grundversorgung in der Kinderbetreuung und im ÖPNV wiederhergestellt und sogar ausgeweitet werden. Nach Meinung des IW sollten auch die öffentliche Verwaltung, der Handel sowie Dienstleistungsanbieter "schnellstmöglich" wieder öffnen. Auf der anderen Seite müsste die Politik einige Branchen auf langfristige Schließungen einstellen, wie Theater, Messebetreiber und Veranstaltungsorganisatoren.

Clemens Fuest, VWL-Professor an der LMU München und Präsident des Ifo-Instituts, plädierte in der "Zeit" zudem für eine Pflicht, Mundschutz zu tragen. "Wenn man vorschreibt, dass flächendeckend einfache Masken zu tragen sind, das wäre nicht nur medizinisch ein Schutz, sondern auch ein Signal, sich wieder rauszutrauen." Dann könnten Menschen auch wieder eher bereit sein, zur Arbeit zu gehen. Ebenso müssten die Lieferketten stehen. Fuest zufolge brauche es "smarte Grenzschließungen: Verfahren, die Güter über die Grenze lassen, aber nicht zu viele Menschen".

Noch vor Ostern forderte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Eric Schweitzer, eine klare Exit-Strategie aus dem Corona-Shutdown und Planungssicherheit für die Wirtschaft. Es brauche schnell Klarheit, sagte Schweitzer der "Rheinischen Post". Es müsse eine Perspektive geschaffen werden, damit sich die Unternehmer darauf vorbereiten könnten, wie sie bald wieder, wenn auch mit Einschränkungen, agieren dürften.

Ethikrat: Maßnahmen ständig überprüfen und anpassen

Bereits Ende März veröffentlichte der Deutsche Ethikrat die achtseitige Empfehlung "Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise". Mit Blick auf die Einschränkungen hieß es, der ethische Konflikt bestehe darin, ein funktionierendes Gesundheitssystem zu sichern und gleichzeitig die negativen Folgen für die Gesellschaft möglichst gering zu halten. Neben ökonomischen Kollateralschäden nannte der Ethikrat-Vorsitzende Peter Dabrock auch negative sozialpsychologische Nachwirkungen.

Die Experten forderten darum eine ständige Prüfung der Maßnahmen. Dem Schutz menschlichen Lebens dürften nicht "alle anderen Freiheits- und Partizipationsrechte sowie Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte bedingungslos untergeordnet werden". Auch müsse der Öffentlichkeit erläutert werden, "wie und unter welchen Voraussetzungen Wege zurück in einen Zustand der 'Normalität' beschritten werden können". Es gehe darum, Unwissenheit – auch über das Datum eines Lockdown-Endes – zu weit wie möglich zu vermeiden.

Der Ethikrat empfiehlt in seinem Dokument, die Corona-Maßnahmen schrittweise zu lockern oder zu beenden, wenn...

  • … dauerhaft statistisch betrachtet eine infektiöse Person weniger als eine andere Person ansteckt.
  • … diese innerhalb eines gesetzten Zeitraums mit Blick auf epidemiologische Prognosen eine Überlastung des Gesundheitssystems nicht verhindern können oder "andere gesundheitliche, wirtschaftliche und psychosoziale Schäden (überwiegen)".
Mit Material von dpa und AFP.

Drei Fakten über den Virus sind noch nicht geklärt

Vor allem die Basisreproduktionszahl R0 des Coronavirus kann man bisher nur schätzen.
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