• Die Debatte über eine allgemeine Impfpflicht in Deutschland hat Fahrt aufgenommen, die Bundesregierung will sie zeitnah einführen.
  • Gleichzeitig häufen sich in Telegram-Gruppen die Pläne von Impfgegnern, auszuwandern. Viele zieht es nach Paraguay.
  • Aber warum? Tobias Meilicke berät Angehörige, die von Verschwörungstheorien in ihrem Umfeld betroffen sind, und berichtet aus der Praxis.

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"Mein Mann hat seinen Job verloren. Er sollte nach einem Jahresvertrag einen Festvertrag bekommen, allerdings wollte sein Chef ihm nur den Festvertrag geben, wenn er sich gegen Corona impfen lässt", schreibt Nutzerin "mimel" in einem Online-Forum. In Deutschland fehle ihrer Familie "die Luft zum Atmen", sie hätte Europa deshalb den Rücken gekehrt. "Haben unser Haus gut verkauft und sind mit ordentlich Kapital gegangen", behauptet die Nutzerin. Sie wolle sich nicht "in eine Form pressen lassen" und frei entscheiden "ob wir oder unsere Kinder uns testen lassen, impfen lassen oder Maske tragen".

Das Land, in das "mimel" ausgewandert sein will, nennt die Userin nicht. Verwundern würde es aber nicht, wenn es Paraguay wäre: Das südamerikanische Land ist bei Impfgegnern gerade Destination Nummer 1. In zahlreichen Telegram-Gruppen wird das Land als Ziel für deutsche Auswanderer empfohlen, die Deutschland wegen seiner Corona-Politik den Rücken kehren wollen.

Auswanderungspläne wegen Impfpflicht

Auch Tobias Meilicke hört immer häufiger von Deutschen, die eine Auswanderung ins mehr als 10.000 Kilometer entfernte Paraguay planen. Meilicke leitet die Beratungsstelle "Veritas", die sich an Betroffene von Verschwörungserzählungen richtet.

"Bei uns melden sich vor allem Familienangehörige. Verschwörungserzählungen rund um das Impfen haben sich in letzter Zeit merklich gehäuft, damit verbunden auch Berichte über Auswanderungspläne im nahen Umfeld", berichtet der studierte Politikwissenschaftler. Seit in Deutschland vermehrt über eine allgemeine Impfpflicht diskutiert werde und sie in Österreich bereits beschlossen wurde, sei das Thema Auswanderung noch größer geworden.

Suiziddrohungen an Angehörige

"Man merkt, wie die Anspannung zunimmt. Die Angehörigen sagen: 'Mein Partner dreht durch, hat Panik vor dem Impfen und will jetzt hier alles abbrechen, den Job kündigen und auswandern'", erzählt Meilicke im Gespräch mit unserer Redaktion. Auch wenn es für Außenstehende schwer nachvollziehbar sei – die Anhänger von Verschwörungserzählungen fürchteten teilweise wirklich um ihr Leben. "Es heißt dann, Impfen mache unfruchtbar oder führe zum Tod", sagt der Experte.

Manchmal werde nahen Angehörigen auch mit Suizid gedroht, wenn sie sich selbst impfen lassen. "Sie bekommen dann zu hören: 'Wenn du dich impfen lässt und daran verstirbst, macht das Leben für mich keinen Sinn mehr', erklärt Meilicke. Im Mittelpunkt stehe oft auch Angst um die eigenen Kinder, die es zu schützen gelte. In Familien führten die Auswanderungspläne auch zur Diskussion um ganz praktische Fragen – organisatorisch, finanziell.

Beliebtes Ziel der Impfgegner: Paraguay

Das Ausland, das Meilicke immer wieder im Zusammenhang mit solchen Berichten genannt bekommt: Paraguay. "Es gibt dort nicht so viele Corona-Maßnahmen wie in Deutschland. Damit sehen die Menschen eine besondere Freiheit erfüllt", sagt Meilicke. Auch werde in Paraguay keine Impfpflicht debattiert – das Signal an manche, ihr Leben in Sicherheit zu wissen. Besonders Erwin Annau, ehemaliger Scientologe und bekennender Querdenker, macht Werbung für die Auswanderung nach Paraguay.

Dabei mischt sich auch rechtspopulistisches Gedankengut in die Argumente: Deutsche würden in Paraguay noch respektiert, heißt es beispielsweise. "Es gab im Sommer auch eine Phase, in der das Ziel oft Tansania war. Der in der Querdenker-Szene bekannte Arzt Bodo Schiffmann hatte sich dahin mit seiner Familie abgesetzt", ergänzt der Experte. Zuletzt sei auch Bulgarien vermehrt im Gespräch gewesen.

Auswärtiges Amt: Keine verlässlichen Zahlen

Dem Auswärtigen Amt liegen keine verlässlichen Zahlen zu Deutschen, die nach Paraguay ausgewandert sind, vor. "Für deutsche Staatsangehörige besteht gegenüber der deutschen Botschaft oder dem Auswärtigen Amt keine Meldepflicht", erläutert eine Sprecherin.

Deutsche im Ausland könnten sich freiwillig auf der elektronischen Deutschenliste eintragen, um beispielsweise in Katastrophenfällen von der Botschaft informiert zu werden. "In Paraguay ist auf dieser Liste eine niedrige dreistellige Zahl deutscher Staatsangehöriger und deren Familienangehörigen eingetragen", heißt es.

Angehörige werden gecoacht

Die Zahl derer, die tatsächlich ausgewandert sind, dürfte deutlich darüber liegen. "In den sozialen Netzwerken werden auch immer wieder bestimmte Orte genannt, wo sich besonders viele Deutschsprachige niedergelassen haben", erzählt Meilicke. Er versucht in der Beratung, Angehörige zu coachen, vor allem in Bezug auf das Setzen von Grenzen.

"Es geht darum, beispielsweise zu formulieren: 'Ich liebe dich, ich möchte Kontakt mit dir und will nicht, dass unsere Beziehung zerbricht, aber ich werde nicht mit dir ins Ausland gehen' – und das ohne Abwertung und Angriff", erklärt Meilicke.

Sektenbildung in Paraguay?

Er hält es für wahrscheinlich, dass die deutschen Auswanderer in Paraguay abgegrenzte Communities bilden, die stark um Verschwörungserzählungen kreisen. "Sie teilen dieselben Ideen und bestätigen sich gegenseitig", sagt der Experte. Ein Distanzierungsprozess könne dann insbesondere der nächsten Generation, also den mitgenommenen Kindern, schwerfallen.

Auch, wenn Auswanderer ihr Leben in Deutschland aufs Spiel gesetzt und damit sehr viel in eine Idee investiert hätten, falle die Distanzierung von der Community schwer. "Wenn man dann merkt, dass man sich verrannt hat, folgen oft Scham- und Schuldgefühle", erklärt Meilicke.

Freiheit nur Illusion?

Wie viel Freiheit die Destination Paraguay wirklich verspricht, ist mehr als fraglich: Zwar verzeichnet das südamerikanische Land laut "corona-in-zahlen.de" derzeit eine deutlich niedrigere Inzidenz (5,0; Stand: 9. Dezember) als Deutschland (422,3; Stand laut RKI-Dashboard: 9. Dezember) und auch die Infektionsrate (6,42 Prozent) ist geringer als hierzulande (7,57 Prozent), aber: Das Gesundheitssystem verfügt bei knapp sieben Millionen Einwohnern nur über 304 Intensivbetten, knapp 200 kommen in Privatkrankenhäusern für Selbstzahler dazu.

Die Letalitätsrate für Corona-Erkrankte ist in Paraguay mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Niedrigere Fallzahlen lassen sich auch mit der besonders jungen Bevölkerung erklären, außerdem zählt Paraguay fast 40 Prozent Landbevölkerung.

Corona-Regeln auch in Paraguay

Nichtsdestotrotz: Corona-Regeln gibt es auch in Paraguay: Bei Einreise muss ein negativer PCR- oder Antigen-Test vorgelegt werden, für Ungeimpfte ist eine fünftägige Quarantäne verpflichtend, die nur mit PCR-Test beendet werden kann. Im öffentlichen Raum muss eine Maske getragen werden.

Je nach epidemiologischer Lage gilt eine nächtliche Ausgangssperre, personelle und zeitliche Begrenzungen gibt es auch für kulturelle Veranstaltungen oder private Treffen. Außerdem zählte Paraguay zu den ersten Ländern, die Quarantänebestimmungen verhängten – und diese streng durchsetzte.

Warnung vor Ausgrenzung

Egal, wie attraktiv das Ziel Paraguay sein mag: Kulturwissenschaftler Eberhard Wolff warnt davor, über impfskeptische Menschen nur als "Problem" zu sprechen. "Impfskeptiker und Impfskeptikerinnen sind eine überaus vielfältige Gruppe, die meist in einen Topf geworfen werden. Wenn Menschen so offen als Problemgruppe ausgegrenzt werden, wundert es mich nicht, dass sie versuchen, sich zusammenzuschließen", sagt der Experte.

Zwar hält auch er die Vorstellung, in Paraguay "freier zu leben" für eine Utopie der Auswanderungswilligen, sagt aber: "Die Absicherung gegen einen großen wirtschaftlichen Zusammenbruch spielt bei manchen sicherlich auch mit. Man sollte vorsichtig sein, das gleich wieder als Verschwörungsgerede zu skandalisieren. Das ist ein komplexes Phänomen mit vielen Abstufungen. "

Über die Experten: Tobias Meilicke hat Politikwissenschaft, Islamwissenschaft und Soziologie studiert und leitet die Beratungsstelle "Veritas". Er ist ausgebildete Fachkraft zum Schutzauftrag von Kindeswohlgefährdung und befindet sich in berufsbegleitender Ausbildung zum Gestalttherapeuten. Seit 2019 beschäftigt er sich intensiv mit Verschwörungserzählungen.
Prof. Dr. Eberhard Wolff lehrt Kulturanthropologie an der Universität Basel. Er hat in Tübingen Kulturwissenschaft und Politikwissenschaft studiert und forscht schwerpunktmäßig in den Bereichen Kulturwissenschaft und Medizingeschichte.

Verwendete Quellen:

  • Presseanfrage beim Auswärtigen Amt
  • Interview mit Tobias Meilicke
  • Interview mit Eberhard Wolff
  • Auswärtiges Amt: Reise- und Sicherheitshinweise Paraguay. Stand 08.12.2021
  • Corona in Zahlen: Paraguay. Stand 09.12.2021
  • Corona in Zahlen: Deutschland. Stand 08.12.2021
  • RKI-Dashboard: Stand 09.12.2021
  • Friedrich-Ebert Stiftung: Warum ist Paraguay bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie (bis jetzt) erfolgreich? 23.07.2020

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