• Nach mehr als einem Jahr fehlen weiterhin wichtige Daten über die Corona-Pandemie.
  • Die Bundesregierung fällt viele Entscheidungen offenbar ohne wissenschaftliche Grundlage.
  • Expertinnen und Experten vermissen vor allem bundesweit durchgeführte, repräsentative Stichproben.
Eine Analyse

Mehr aktuelle Informationen zum Coronavirus finden Sie hier

Mehr aktuelle News

Nach mehr als einem Jahr in der Pandemie wirkt die Bundesregierung bei ihren Entscheidungen immer noch hilflos. Einer der Gründe ist, dass die Datenlage, auf die sich die Regierung stützt, immer noch sehr dünn ist.

Wo sich die Menschen anstecken, welche Berufsgruppen besonders betroffen sind und welche Maßnahmen wie gut greifen – auch im zweiten Jahr der Pandemie fehlen oft noch verlässliche Daten. Und ohne solche Daten bleibt eine gezieltere Bekämpfung des Virus unmöglich.

Experten wie der Sozialwissenschaftler Rainer Schnell und der Medizinstatistiker Gerd Antes kritisieren die fehlende Datenbasis schon seit Beginn der Pandemie. Doch offensichtlich werden sie nicht gehört.

Warum ist der Regierung so wenig über Infizierte bekannt?

Wenn das Gesundheitsamt in Hamburg eine Anfrage bekommt, wie viele Menschen sich zum Beispiel in einem Fitness-Studio anstecken, kann meist niemand diese Frage beantworten. Das berichtet Martin Helfrich, Pressesprecher der Sozialbehörde in Hamburg, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Der Grund dafür ist, dass sich die Menschen selbst nicht erinnern können oder es nicht wissen, wo sie sich angesteckt haben", sagt Helfrich.

Also geht das Gesundheitsamt gemeinsam mit den Infizierten zurück im Kalender, um zu sehen, wo es Kontakte gab. Im Einzelfall mag das sinnvoll sein. Doch was fehlt, sind bevölkerungsdeckende Untersuchungen. Stichprobenbasiert und nach wissenschaftlichen Methoden.

"Wir haben vor mehr als einem Jahr eine Liste gemacht von den Datenerhebungen, die notwendig wären", sagt Rainer Schnell, Professor für Empirische Sozialforschung an der Universität Duisburg-Essen. Der Statistik-Experte hätte sich unter anderem eine Studie gewünscht, die den Krankheitsverlauf bei Infizierten zeigt. Doch die gab es nicht. "Und das ist schlicht und einfach ein Versagen des RKI", sagt Schnell.

Vor allem aber fehlt Schnell eine Zufallsstichprobe aus der Bevölkerung. Geradezu verzweifelt hatten er und seine Kollegen das Robert-Koch-Institut dazu aufgefordert. Ohne Ergebnis.

"Es gab Interviews, bis hin zur Tagesschau", berichtet Schnell. "Es gab eine wissenschaftliche Veröffentlichung. Wir haben versucht, per E-Mail mit dem RKI in Kontakt zu treten. Wir haben versucht, uns über einen Beirat direkt an Lothar Wieler (Präsident des RKI, Anm. d. Red.) zu wenden. Das RKI hat alles abgeblockt. Sie haben einfach nichts gemacht. Vollkommen irre!"

Auch der Medizinstatistiker Gerd Antes argumentiert ähnlich: "Wir haben es versäumt, rechtzeitig und zielstrebig die richtigen Dinge einzuleiten", sagt Antes in einem Gespräch der Audio-Reihe "Impuls". "Das war zu Anfang verzeihlich, aber über den Sommer hinweg haben wir begriffen, wie groß die Lücken sind und da an keiner Stelle die richtigen Reaktionen gezeigt."

Lesen Sie auch: Merkel zeigt sich nach einem Jahr Corona-Pandemie kritisch

Interessant: Bereits im April 2020 hatte Antes in der Sendung von Markus Lanz auf die fehlende Datenbasis hingewiesen. "Wir müssen deutlich präziser werden", forderte er damals. Und das wäre gar nicht so kompliziert, argumentiert Rainer Schnell. Eine Möglichkeit wäre etwa, die Daten über die Krankenkassen zu tracken. Dazu bräuchte man allerdings das Einverständnis der Patienten.

Eine andere Vorgehensweise empfiehlt Viola Priesemann, die am Max-Planck-Institut die Pandemie mathematisch erforscht. Am 14. März erklärte sie in einem Tweet: "Am besten wäre es, wenn wir, genauso wie UK, ein Screening hätten, also rund 100.000 Zufallstests, die jede Woche ein objektives Bild des Ausbruchsgeschehens liefern. Dann müssten wir hier nicht diskutieren."

Warum gibt es keine Studien in einem repräsentativen Teil der Bevölkerung? Warum wurden kein Corona-Panel und kein Monitoring-System organisiert?

Aber warum gibt es das nicht längst? Warum gibt es keine Studien in einem repräsentativen Teil der Bevölkerung? Warum wurden kein Corona-Panel und kein Monitoring-System organisiert?

"Dazu müsste man Leute haben, die kompetent sind und Zeit haben", sagt Helmut Fickenscher, Virologe an der Universität Kiel. Die Antwort mag mit einem Augenzwinkern kommen, hat aber einen wahren Kern. Viele seiner Kollegen würden monieren, dass wichtige Studien fehlen. Aber selbst würden sie die Arbeit ebenso scheuen. "Im fachlichen Umfeld ist man so überlastet, dass schlicht die Zeit fehlt" erklärt Fickenscher. "Und das Geld ist auch schwierig zu organisieren."

Auch Rainer Schnell beklagt die mangelnden Geldmittel: "Die Universitäten haben kein Geld. Ich meine das wörtlich. Die Grundausstattung deckt die Lehre ab. Wenn sie Forschung machen wollen, brauchen sie Drittmittel."

Doch um diese zu erhalten, braucht es Geduld. "Die Begutachtungsprozesse dauern typischerweise ein bis zwei Jahre", erklärt Schnell. "Das heißt also: Die zur Verfügung gestellten Mittel für die Corona-Forschung werden jetzt langsam ausgeschüttet."

Datenschutz führt zu kurioser Situation

Eine weitere Hürde ist der Datenschutz. Rainer Schnell weiß, dass deshalb seine Idee, mit Krankenkassen zu kooperieren, nicht funktioniert. Und auch die Krankenhäuser würden keinerlei Daten herausgeben – auch wo dies gesetzlich möglich wäre.

Das führte zu der kuriosen Situation, dass die Bundesregierung laut "Ärzteblatt" keine Kenntnis über das Durchschnittsalter der COVID-19-Patienten auf deutschen Intensivstationen hat. So die Auskunft des Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter­iums auf eine Anfrage der FDP.

"Wir arbeiten in einem Spannungsumfeld zwischen Datenschutz und Pandemiebekämpfung." So bringt es Martin Helfrich von der Sozialbehörde Hamburg auf den Punkt. "Wenn man den Datenschutz vollständig aufgeben würde, könnte man eine effektivere Pandemiebekämpfung bekommen."

Wie sensibel das Thema ist, zeigte bereits die Diskussion um die Corona-App. "Im Ausland, zum Beispiel den asiatischen Ländern, gibt es ja durchaus effektivere Methoden", sagt Helfrich. "Aber das sind Instrumente, die uns bewusst nicht zur Verfügung stehen. Deshalb müssen wir Maßnahmen ergreifen, um die Kontakte zu reduzieren. Wir können nicht anders."

Warum wird immer noch gefaxt und warum gibt es keine einheitliche Software?

Sieht es denn wenigstens beim Einsatz digitaler Techniken besser aus? "In Hamburg nutzen wir den Hamburger Pandemiemanager", erklärt Helfrich, "ein auftragsbasiertes Softwaretool, mit dem wir Daten erfassen, Quarantäneverordnungen generieren und Folgeanrufe organisieren." Dass Faxgeräte bei den Gesundheitsämtern weiterhin eine Rolle spielen, leugnet er nicht. Die viel diskutierte Software SORMAS jedoch sei kein Allheilmittel. Sie sei nur zum Austausch zwischen den jeweiligen Gesundheitsämtern geeignet.

In Deutschland gibt es circa 400 Gesundheitsämter. Die meisten verfolgen dabei ihre individuellen Ansätze, wenn es um die Datenverarbeitung geht. Die Stadt Köln etwa nutzt ein Tool namens "Digitales Kontaktmanagement" (DiKoMa). Andere Ämter arbeiten wieder mit völlig anderen Programmen. "Das Hauptproblem ist, dass es für Forschungsdaten aus dem Gesundheitswesen keine geordneten Wege gibt, kurzfristig analysierbare Datensätze zu machen", sagt Rainer Schnell. "Offensichtlich war dieses Land nicht vorbereitet."

Für eine gute Vorbereitung brauche man eine entsprechende Dateninfrastruktur und keine Faxgeräte, sagt Schnell und schickt einen düsteren Satz hinterher: "Wenn das hier eine Ebola-artige Seuche wäre, dann wäre dieses Land mittlerweile unbewohnbar." Wie sieht es aber in anderen Ländern aus?

Was läuft in anderen Ländern besser, und was ist hierzulande einfach nicht besser möglich?

Dass Viola Priesemann in ihrem Tweet auf Großbritannien verweist, ist kein Zufall. Das Land hat ein Panel installiert, das schnell und regelmäßig Daten liefert.

"Großbritannien ist - was Corona betrifft - sicher kein Vorbild", sagt Schnell, "aber was die Datenerhebung zu Corona betrifft, hat es nach meinem Wissen kaum ein Land besser hinbekommen." Die Zusammenarbeit zwischen amtlichen Stellen, dem Gesundheitssystem und den Universitäten sei in Großbritannien "dramatisch besser" als in den meisten anderen Ländern, betont Schnell. Dort habe man "innerhalb von zwei Monaten ein Forschungsprojekt aus dem Boden gestampft". In Deutschland hätte man in zwei Monaten die Leute nicht an einen Tisch bekommen, vermutet Schnell. "Dann hätten die Datenschützer zwei Jahre gebraucht, um schließlich zu sagen: 'Vielleicht.'"

"Die Organisationsformen sind unterschiedlich", sagt Helmut Fickenscher. "Deshalb ist vieles nicht vergleichbar. In Großbritannien gibt es ein staatliches Gesundheitssystem, da kann man besser durchregieren."

Rainer Schnell sieht noch ein anderes Problem: "Das RKI und auch das Statistische Bundesamt sind keine unabhängigen Forschungseinrichtungen, sondern gehören zu den jeweiligen Ministerien. Sie sind auch nicht unter wissenschaftlicher Leitung, die zuvorderst an wissenschaftlichen Fragestellungen interessiert ist, sondern sie erfüllen gesetzliche Aufträge." Schnell nennt dies eine "Fehlkonstruktion durch den Gesetzgeber".

Laut Schnell habe auch das Bundesgesundheitsministerium einen Fehler gemacht, indem es die Pandemiebekämpfung den Medizinern überlassen habe. "Das ist ein Kurzschluss", sagt Schnell. "Die Behandlung von Krankheiten ist der Job von Medizinern. Die Ausbreitung von Krankheiten ist nur bedingt ein Gebiet der Mediziner." Dafür hätten Epidemiologen, Ökonomen und Statistiker mit an den Tisch gehört. Und Soziologen und Soziologinnen wie das Team von Schnell.

Fazit: Was können wir aus dem bisherigen Pandemieverlauf lernen?

Es ist ein fast schon geflügeltes Wort – die nächste Pandemie kommt bestimmt. Rainer Schnell fordert deshalb eine "positive gesetzliche Regelung, dass Forschungsdaten dem Datenschutz nur bedingt unterliegen".

Gerd Antes plädiert für eine kontrollierte und systematische Vorgehensweise: "Der Weg wäre, Gruppen zu definieren, die sich prinzipiell unterschiedlich verhalten oder unterschiedliche Bedingungen haben." Aus diesen Daten ließen sich die jeweiligen Effekte von Maßnahmen ableiten.

Klingt denkbar einfach. Bis es so weit ist, werden wohl weiterhin die groben Werkzeuge herhalten müssen. Und die Regierung ist weiterhin im Blindflug unterwegs.

Über die Experten: Rainer Schnell ist Professor für empirische Sozialforschung an der Universität Duisburg-Essen.
Prof. Dr. med. Helmut Fickenscher ist Leiter des Instituts für Infektionsmedizin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Martin Helfrich ist Leiter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Sozialbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Rainer Schnell
  • Interview mit Helmut Fickenscher
  • Interview mit Martin Helfrich
  • welt.de: Wer mehr weiß, kann sich mehr Freiheiten erlauben. Wir wissen fast nichts
  • Youtube-Beitrag: Ansteckung mit Covid-19: Wo passiert es eigentlich?
  • Markus Lanz vom 7. April 2020
  • aerzteblatt.de: Regierung hat keine Kenntnis vom Alter der Coronapatienten auf Intensivstationen
  • Twitter-Account von Viola Priesemann
  • Website der Ärztekammer Nordrhein: Gesundheitsämter in der Krise
Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "Einblick" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen.

Pandemie: Veranstalter erwarten mit EU-Corona-Pass Reiseboom

Seit Monaten sind die meisten Urlaubsziele wegen der Corona-Pandemie unerreichbar. Die Tourismusbranche leidet. Mit Fortschritten bei den Impfungen und der Aussicht auf den EU-Corona-Pass hellen sich die Perspektiven auf. (Teaserbild: picture alliance/ANE/Eurokinissi)

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.