Im Kampf gegen die Corona-Pandemie beweist der Staat auch in Deutschland seine Stärke. Ein Politikwissenschaftler warnt: Bürgerinnen und Bürger dürfen sich deshalb nicht von ihrer eigenen Verantwortung freimachen
Seit der Ausbreitung des Coronavirus befinden sich Deutschland und die Welt im Ausnahmezustand. Das gilt auch für die Politik: Der Bundestag beschließt an nur einem Tag ein Gesetz, über das Abgeordnete früher Monate diskutiert hätten. Bundes- und Landesregierungen verkünden immer drastischere Maßnahmen.
Im Interview mit unserer Redaktion erklärt der Politikwissenschaftler Matthias Lemke von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, warum das für die Demokratie gefährlich sein kann – und warum der Föderalismus besser ist als sein Ruf.
Herr Lemke, wir erleben im Zuge der Corona-Krise tiefe Einschnitte in die persönlichen Freiheiten. Sind solche Maßnahmen dem deutschen Grundgesetz nach eigentlich zulässig?
Matthias Lemke: Wir reden hier über Beschränkungen der Grund- und Freiheitsrechte – und die sind der Verfassung nach möglich. Wichtig ist eine klare Sprache. In Bayern ist nicht von einer Ausgangssperre die Rede, sondern von einer Ausgangsbeschränkung.
Diese Beschränkungen können den Menschen auch in ganz alltäglichen Situationen begegnen – allerdings in kleinerem Maßstab. Zum Beispiel, wenn Feuerwehrleute Menschen von einer Einsatzstelle verweisen.
China verweist derzeit stolz darauf, dass es die Zahl der Infizierten gesenkt habe. Stehen demokratische Staaten jetzt unter dem Druck, ihre Handlungsfähigkeit zu beweisen?
Zunächst muss man hinterfragen, wie verlässlich diese Angaben sind. Eine autoritäre Regierung wie die in China versucht jetzt natürlich, Ruhe herzustellen, die eigenen Erfolge hervorzuheben. Allerdings stehen in der Tat auch Demokratien unter Druck.
Emmanuel Macron hat in Frankreich gesagt: Wir befinden uns im Krieg. Wer eine solche Situation so unangemessen auflädt, muss sich dann auch fragen: Wie gewinne ich so einen Krieg?
Ich finde die Einlassung von Angela Merkel da wesentlich angemessener. Sie hat gesagt: Wir alle sollten diese Situation ernst nehmen. Das ist auch der Anspruch einer Demokratie: Wir alle sind aufgerufen, uns gemeinsam vernünftig zu verhalten.
In Notsituationen schlägt die Stunde der Exekutive, also der Regierungen. Welche Folgen hat das für die Demokratie?
Das kann durchaus gefährliche Folgen haben. Die Demokratie lebt davon, dass wir uns über Probleme auseinandersetzen, diskutieren, streiten. Wir informieren uns über Lösungen, lernen, passen unsere Entscheidungen an.
Jetzt, in der Stunde der Krise, müssen auch demokratische Regierungen ihre Handlungsmacht bündeln und schnell entscheiden. Dabei müssen wir uns aber immer wieder fragen: Welche Maßnahmen sind angemessen – und wo schießen wir übers Ziel hinaus?
Besteht die Gefahr, dass Bürgerinnen und Bürger sich mit der sehr starken Rolle des Staates anfreunden?
Ich sehe auf jeden Fall die Gefahr, dass die Menschen sich von ihrer eigenen Verantwortung freimachen. Der Staat soll sich mal kümmern. In den sozialen Medien machen sich gerade viele Stimmen bemerkbar, die sagen: Gebt uns doch die Ausgangssperre, sonst kapieren die Menschen das nicht. Das ist eine zweischneidige Sache.
Natürlich muss der Staat handlungsfähig bleiben, aber wir sind jetzt alle in der Verantwortung. Ich wüsste kein System, das für die Bewältigung dieser Krise besser geeignet wäre als die Demokratie. Sie ist lernfähig, sie ist kommunikativ, sie bindet uns alle ein – und das ist in einer Krisensituation ganz wichtig.
Es gibt bereits Gedankenspiele, was passiert, wenn der Bundestag nicht mehr zusammentreten kann. Was sieht das Grundgesetz für diesen Fall vor?
Das Grundgesetz hat 1968 eine Ergänzung bekommen, die damals hochgradig umstritten war: die Notstandgesetze. Wenn das Parlament im Verteidigungsfall – also bei einem militärischen Angriff von außen – nicht mehr zusammentreten kann, gibt es den Gemeinsamen Ausschuss. Der setzt sich aus 48 Vertretern des Bundestages und des Bundesrates zusammen.
Allerdings gilt diese Regel nicht für den Fall eines inneren Notstands, also bei einer Katastrophen- oder Pandemielage. Für den Katastrophenschutz sind die Bundesländer und im Endeffekt die Kommunen zuständig. Überspitzt formuliert: Es ist gar nicht so entscheidend, ob der Bundestag noch zusammenkommen kann. Die Länder und Kommunen bleiben handlungsfähig – das ist die Stärke des deutschen Föderalismus.
Dabei werden gerade besonders viele Zweifel am Föderalismus laut. Wäre es nicht besser, wenn über Maßnahmen zur Virusbekämpfung zentral in Berlin entschieden wird?
Der Föderalismus ist gerade für solche Situationen ausgelegt. Woher soll man in Berlin wissen, welche Maßnahmen und Einsatzkonzepte zum Beispiel in Freiburg und in Flensburg gerade nötig sind? Was weiß man in Berlin über den Katastrophenschutz in ländlichen Gebieten in Niedersachsen oder in der Großstadt Köln? Und erst da, wo Kommunen und Länder nicht mehr weiterkommen, braucht es die Unterstützung des Bundes.
Die Experten für Fragen des Katastrophenschutzes haben wir auf Landesebene und in den Kommunen. Die wissen, was für ihren Bereich jeweils erforderlich ist. Und die haben einen Überblick über Krankenhauskapazitäten oder über die Leistungsfähigkeit ihrer Feuerwehr.
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