- Mit weniger als zehn verabreichten Impfdosen pro 100 Einwohner liegt Deutschland in Sachen Impfung weit abgeschlagen hinter internationalen Spitzenreitern wie Israel, den USA und Großbritannien.
- Die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, Maria Klein-Schmeink, nennt die fünf Bremsen der Impfkampagne.
- Auch eine Ärztin berichtet von einem ernüchternden Tag im Impfzentrum.
Sie verspricht einen Ausweg aus dem Lockdown und eine Rückkehr zur Normalität: Auf der Impfung gegen das Coronavirus basiert derzeit die weltweite Hoffnung in Sachen Pandemie-Bekämpfung. Bis Ende September will die Bundesregierung jedem ein Impfangebot machen.
Im internationalen Vergleich aber steht Deutschland nicht gut da: Spitzenreiter Israel hat bereits pro 100 Einwohner 99 Impfdosen verabreicht (Stand 4. und 5. März). Auch die Vereinigten Arabischen Emirate (63 Impfdosen), Großbritannien (33), die USA (27) und Chile (24) kommen mit der Impfkampagne vorbildlich voran.
Deutschland im weltweiten Mittelfeld
Deutschland lag zum selben Zeitpunkt mit 8,45 verabreichten Impfdosen allerdings nur im internationalen Mittelfeld, jedoch ziemlich genau im EU-Durchschnitt (8,65). Luft nach oben gibt es aber definitiv: Rumänien und Polen sind bereits an Deutschland vorbeigezogen. Warum nimmt Deutschland kein Tempo auf?
"Dass Deutschland nicht vorankommt, hat verschiedene Ursachen", ist sich die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, Maria Klein-Schmeink, sicher. Logistische Probleme hinderten die Impfkampagne ebenso daran, Fahrt aufzunehmen, wie bürokratische Hürden und Koordinationsprobleme. Wir analysieren die fünf Bremsen der Impfkampagne.
Bremse Nummer 1: Zu wenig Impfstoff
Ende 2020 fiel der Startschuss für die Corona-Impfungen, in die Vollen gehen konnte Deutschland dabei aber nicht: "Die Regierung hat anfänglich, obwohl zu wenig Impfdosen zur Verfügung standen, hohe Erwartungen geweckt", kritisiert die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Gespräch mit unserer Redaktion. Die Impfzentren seien deshalb zu Beginn nicht ausgelastet gewesen.
"Es wurde deshalb nicht am Wochenende geimpft und teilweise nur halbtags", berichtet eine Ärztin, die im Impfzentrum einer großen Ruhrgebietsstadt arbeitet. Zu diesem Zeitpunkt sei das sinnvoll gewesen. "Jetzt sollte man aber jede Chance nutzen, um zu impfen – also an allen Wochentagen", meint sie.
Lesen Sie auch: Nach COVID-19-Vorerkrankung könnte eine Impfstoffdosis ausreichen
Regierung weist Vorwurf zurück
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte den Vorwurf, die Impfkampagne sei aufgrund zu geringer Impfstoffbeschaffung nur schleppend angelaufen, immer wieder zurückgewiesen. Zwar hatte er bei einer Pressekonferenz in Berlin Anfang Januar zugegeben, dass lange klar gewesen ist, dass man anfangs zu wenig Impfstoff hatte. Ursächlich sei aber nicht eine zu gering bestellte Menge, sondern fehlende Produktionskapazitäten. "Ich hätte auch das Zehnfache bestellen können", sagte der Minister.
Auch die für Verhandlungen mit den Herstellern zuständige Europäische Kommission hatte die Vorwürfe von sich gewiesen. "Das Nadelöhr ist derzeit nicht die Zahl der Bestellungen, sondern der weltweite Engpass an Produktionskapazitäten", sagte die EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides in Brüssel. So oder so: Die Menge an Impfstoffdosen hat einen schnellen Start verhindert.
Bremse Nummer 2: Terminvergabe
Fast in allen Bundesländern zeigte sich zu Beginn der Impfkampagne dasselbe Bild: überlastete Telefonhotlines, zusammengebrochene Terminvergabeportale. "Viele Menschen hatten Schwierigkeiten, überhaupt einen Termin zu bekommen", weiß Klein-Schmeink.
Zusätzlich habe es Software-Probleme gegeben: "Es wurden zu Anfang zum Beispiel nur Erst- und nicht Zweittermine vergeben, sodass es zu zeitlichen Überschneidungen kam", kritisiert die Grünen-Politikerin. Außerdem sei die Terminvergabe für bestimmte Gruppen auch heute noch immer zu wenig vorbereitet: "Risikopatienten unter 80 hatten deshalb teilweise erhebliche Probleme, an einen Termin zu kommen, es ist noch immer unklar, wie Risikogruppen eingeladen werden", sagt Klein-Schmeink weiter.
Digitale Stolpersteine
Auch die Impfärztin hat selbiges erlebt: "Als sich Hausarztpraxen offiziell impfen lassen konnten, gab es im Portal nur einen Button für Zahnärzte. Sie konnten sich deshalb keinen Termin buchen." Bundestagsabgeordnete Klein-Schmeink meint angesichts dessen: "Die digitalen Anmeldeverfahren stellen sich zu langsam auf die neuen Situationen ein. Das trifft auch auf die unterschiedlich langen Zeiträume zu, auf die man die Zweitimpfung je nach Impfstoff ausdehnen kann."
Manko in ihren Augen auch: "Man konnte zum Beispiel zu Anfang nur alleine einen Termin buchen und nicht als Ehepaar", erzählt die Politikerin. Gerade im ländlichen Raum sei die Anfahrt dann für viele erschwert.
Bremse Nummer 3: Bürokratische Hürden
In puncto Anfahrt zeigt sich in Klein-Schmeinks Augen eine weitere Bremse: "Es gibt bürokratische Hürden, die die Impfkampagne lähmen. Es hat zum Beispiel lange gedauert, bis Kommunen und Kreise die Kostenübernahme für Anfahrten zugesagt haben", erinnert sie.
Ein noch viel größeres bürokratisches Problem habe sich aber bei den Priorisierungsgruppen gezeigt: "Man hat viel zu spät darüber nachgedacht, wie man bestimmte Gruppen ausfindig macht, um sie einladen zu können", sagt die Bundestagsabgeorndete. Nun steht fest, dass die Länder die Krankenkassendaten nutzen können. "Der Klärungsprozess hat aber zu lange gedauert, Bürokratie ist hier sehr schleppend."
Auch die Impfärztin wünscht sich mehr Flexibilität: "Die Impfzentren sind voll funktionsfähig, das Personal steht bereit. Es wäre sinnvoll, wenn die Grenzen zwischen den Priorisierungsgruppen etwas durchlässiger wären und Patienten schneller nachrutschen könnten. Die Priorisierungsgruppen brechen uns aktuell das Genick", sagt sie.
Lesen Sie auch: Impfstart in Praxen wohl doch erst Mitte April
Bremse Nummer 4: Schlechtes Marketing
Bei ihrem ersten Einsatz im Impfzentrum hat sie ein ernüchterndes Erlebnis gehabt: "Acht Ärzte und weiteres Personal standen Gewehr bei Fuß, aber es hatten sich kaum Impfwillige angemeldet. So konnten wir vorzeitig nach Hause gehen, obwohl der Impfstoff bereitstand", berichtet sie.
Nur 60 Personen hatten sich angemeldet – obwohl Kapazitäten für knapp 1.000 Menschen pro Tag zur Verfügung standen. Die Ärztin betont: "Inzwischen führe ich 20 Aufklärungsgespräche für die Impfung pro Stunde. Das macht Hoffnung, es geht voran." Dass sich aber bei ihrem ersten Einsatz so wenige Menschen angemeldet hatten, schreibt sie einem Kommunikations- und Marketingproblem zu:
Falsches Signal an Bevölkerung
"Jeder wollte den Biontech-Impfstoff, aber nicht AstraZeneca. Die Ständige Impfkomission hatte einfach noch keine ausreichende Datengrundlage, um AstraZeneca auch für über 65-Jährige zu empfehlen. Das kam in der Bevölkerung aber falsch an", ist sie sich sicher. Inzwischen hat die Ständige Impfkommission (Stiko) ihre Empfehlung auch auf Ältere ausgeweitet.
"Die Leute, die einen Impftermin hätten haben können, waren skeptisch und haben sich nicht angemeldet. Andere Impfwillige konnten sich wegen der Priorisierung noch nicht anmelden", erklärt die Medizinerin.
Klein-Schmeink urteilt deshalb: "Die Bundesregierung hat die Fachgesellschaften viel zu spät aktiviert, sich dazu zu äußern. In der Öffentlichkeit ist hängen geblieben, es handele sich um einen zweitklassigen Impfstoff. Das stimmt so natürlich nicht." Das schlechte Marketing habe somit die Impfkampagne beschädigt.
Bremse Nummer 5: Planungsprobleme
Insgesamt ist sich die gesundheitspolitische Sprecherin sicher: "Das Krisenmanagement ist ausgesprochen verbesserungswürdig. Es wird immer erst über ein neues Problem nachgedacht, wenn es aufgetaucht ist – nicht vorausschauend." Es herrsche ein struktureller Mangel auf allen Ebenen. "Es reicht nicht, im Beschaffungswesen zu schauen, ob genug bestellt wurde – man muss das ganze Drumherum im Blick haben", mahnt sie.
Dabei bremsen aus ihrer Sicht auch die geteilten Kompetenzen zwischen Bund und Ländern. "Die Impforganisation liegt bei den Ländern, an sie werden die Impfstoffe auch nach dem Königssteiner Schlüssel verteilt. Wenn jetzt aber die Hausärzteschaft einbezogen werden soll, stellt sich auf Bundesebene die Frage, wie man die Impfstoffe an den Apotheken-Großhandel und die Praxen bekommt", merkt Klein-Schmeink an.
Lesen Sie auch: Gibt es wirklich einen Zusammenhang zwischen Herkunft und COVID-19-Erkrankung?
Ungeklärte Frage
Man hätte schon nach dem letzten Impfgipfel mit Ärztekammern, Hausarztverbänden und Kassenärztlichen Vereinigungen ins Gespräch gehen müssen. "Weil man mit dem Aufbau der Logistik jetzt erst anfängt, vergeht wichtige Zeit, die wir besser hätten nutzen müssen", sagt sie.
Bei der Einbeziehung der Hausärzte sieht die Medizinerin aus dem Impfzentrum jedoch noch eine ganz andere ungeklärte Frage: "Im Impfzentrum werden die Patienten nach der Impfung etwa 15 bis 30 Minuten nachbeobachtet. Wie soll das angesichts der räumlichen Kapazitäten in Hausarztpraxen umgesetzt werden?" Wie das Bundesgesundheitsministerium zu all dem steht, ist unklar. Eine Anfrage unserer Redaktion blieb bis zum heutigen Tag unbeantwortet.
Verwendete Quelle:
- Our World in Data: Impfstoffgaben im internationalen Vergleich - "Covid Vaccinations"
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.