Gemeinsam den Verstorbenen gedenken und das Abstrakte greifbar machen - aus diesem Anlass findet am 18. April eine nationale Gedenkfeier für die Toten der Corona-Pandemie statt. Wir haben unsere Leserinnen und Leser, die jemanden an oder mit Corona verloren haben, aufgerufen, uns ihre Geschichte zu schreiben. Hier veröffentlichen wir eine Auswahl ihrer Erzählungen: von der Trauer, vom Abschiednehmen in Zeiten der Pandemie und von den Erinnerungen an die Verstorbenen.
Meine Stütze, meine Säule, mein Ruhepol
von Oktay, Duisburg
Mein Vater starb am 6. November 2020. Um 5:27 Uhr kam der Anruf aus dem Krankenhaus. Meine Welt wurde schwarz. Seit zehn Tagen hatte ich meinen Vater nicht mehr gesehen, nur mal kurz seine Stimme gehört. Nun konnte ich zu ihm – so, wie ich es nie wollte. Ich wollte ihn besuchen, mit ihm reden, am Bett sitzen und ihn am besten wieder nach Hause holen. Der Schmerz, als ich ihn in der Intensivstation im Bett liegend sah, war überwältigend, grausam und schön. Geschlossene Augen, ein Engelsgesicht. Ich habe so sehr geweint.
Ich musste in Schutzkleidung zu ihm, Handschuhe, Maske, Visier, konnte ihn nicht richtig umarmen – aber ich durfte irgendwie bei ihm sein. Meine Mutter konnte es nicht, sie ist schon lange an die Wohnung gefesselt, findet sich dort zurecht, aber kommt nicht mehr raus. Mein Vater war meine Stütze, meine Säule, mein Ruhepol – alles weg. Und wir dachten immer, wir schaffen es. Corona wird uns nichts anhaben. Nun bin ich die Stütze, die Säule – aber kein Ruhepol.
Klar, mein Vater war alt, 84, hatte schon seine Krankheiten und gehörte zur Risikogruppe. Aber man denkt, man bleibt verschont. Eingeliefert habe ich ihn wegen seiner Herzschwäche, diese hatte er schon länger. Ohne COVID-Symptome und ohne Fieber. Drei Tage später wurde das Virus diagnostiziert, danach ging es rasend schnell. Beatmung, Intubation, Intensivstation. Wir haben gehofft, aber es sollte nicht sein.
Wir hadern nicht, er hatte, so hoffe ich, ein gutes Leben. Mein Vater kam 1962 aus der Türkei nach Deutschland, arbeitete erst in einer Zeche in Duisburg, unter Tage, dann bis zur Rente in der Stahlindustrie. Er war einer derjenigen, die halfen, das Wirtschaftswunder in Deutschland zu stemmen. Bis auf seine Urlaube in der Türkei war er immer hier. Er wollte immer noch ein letztes Mal in die Türkei mit sehenden Augen. Es kam nicht dazu.
Beerdigt habe ich ihn dann in der Türkei, in seinem Dorf. Allah sei Dank, es hat alles gut funktioniert und ich wurde von meinen Verwandten dort aufgefangen – in einer schmerzhaften Stunde waren sie da. Er bleibt immer in unseren Herzen und unseren Gedanken, und ich werde niemals die letzten Tage vergessen: von seiner Fahrt ins Krankenhaus bis zur Beerdigung. Alles hat sich fest eingebrannt.
Wir leben weiter, wie es halt so ist. Die Toten verlassen uns und wir müssen da sein für alle, die wir lieben, Frau, Kind, Mutter. Irgendwann werden wir uns wiedersehen, so hoffe ich. Es bricht zwar immer wieder heraus, die Trauer, der Schmerz. Aber es ist, wie es ist. Mit meinem Schmerz bin ich nicht alleine. So viele andere in Duisburg und in der Welt haben Angehörige verloren. Aber ich hoffe, alle sind stark, so wie wir.
Mit lieben Gedanken an meinen Vater.
Herz ist Liebe
von Silvias Schwester, Bonn
Unsere Schwester Silvia starb im Oktober 2020 an einer Corona-Infektion. Sie hatte das Down-Syndrom. Viele Jahre hat sie in ihrem eigenen Apartment gewohnt, unterstützt von Mitarbeitern der Lebenshilfe. Im vergangenen Jahr musste sie leider vom ambulant betreuten Wohnen in ein stationäres Wohnheim umziehen.
Als sie akut krank wurde, wollten die Fahrer des Krankenwagens sie erst gar nicht mitnehmen, weil sie so vital aussah und herumlief. Aber die Sauerstoffsättigung im Blut war sehr schlecht. Auf der Intensivstation ging es ihr erst besser, dann verschlechterte sich ihr Zustand wieder, und dann schlief sie am 21. Oktober für immer ein. Die Krankenschwester, die zuletzt bei ihr war, hat ihr noch etwas vorgesungen. Dafür bin ich der Pflegerin sehr, sehr dankbar. Silvia während der Pandemie zu betreuen, war keine leichte Aufgabe für die Pflegerinnen und Pfleger, denn sie hat so viele Maßnahmen einfach nicht verstanden: dass zum Beispiel nicht mehr alle gemeinsam an einem Tisch aßen, sondern jeder für sich auf seinem Zimmer.
Meine Schwester sagte immer: "Herz ist Liebe." Sie hat fast jeden Menschen geliebt, sie war immer optimistisch, integrierend, fröhlich, fleißig, freundlich, kooperativ – sie konnte Streit nicht ertragen. Die große Liebe zwischen ihr und ihrem Freund war legendär. Sie erzählte immer von ihm, auch als er schon lange gestorben war. Die einzige Waffe, die sie besaß, war ihr Trotz. Damit setzte sie sich durch. Auch wenn ich dabei gegen sie verlor und geschimpft habe, habe ich mich trotzdem immer gefreut, dass sie so viel Stärke hatte, um sich zu verteidigen. Trotz ist die Stärke der Gewaltfreien.
Sie hat ihre Arbeit in der beschützenden Werkstatt immer so gerne gemacht. Außerdem hat sie gerne gestickt, sie hat hervorragende, einzigartige Bilder gemalt und sie hat sich über jedes noch so kleine Geschenk gefreut: über Malbücher, Stofftiere, Herzkissen, Schlager-CDs, Blumen. Ich habe die Geschenke für ihren Geburtstag während des ganzen Jahres gesammelt. Wir haben diesen größten Tag des Jahres immer mit Freunden gefeiert. Sie hat sich immer so auf ihren Geburtstag gefreut. Auch jetzt liegen noch Geschenke für ihren nächsten Geburtstag bei mir. Sie wird sie nie bekommen.
Seit sie nicht mehr da ist, fehlt so plötzlich das Kindliche, das Fröhliche, das Herzliche, eigentlich das Selbstverständliche an meiner Seite. Viele Menschen sind mit uns traurig. Manchmal besuchen Freundinnen und Freunde ihr Grab und bringen Kerzen oder Blumen mit. Ich trage Silvias Fingerabdruck aus Silber an meiner Halskette. Silvia wurde 64 Jahre alt.
Sie fehlt mir sehr
von Virginia, Saulheim
Meine Oma hätte im März 2021 ihren 80. Geburtstag gefeiert. Meine Familie wusste, dass sie Corona wohl nicht überleben würde, wenn sie sich infizieren sollte, da sie schon vorher Probleme mit der Lunge hatte. Da wir drei Stunden voneinander entfernt lebten, hatten wir uns in der Vergangenheit immer nur alle drei oder vier Monate gesehen.
Zuletzt gesehen habe ich sie im Dezember 2019, der nächste Besuch war für Ostern 2020 geplant. Doch dann kam die Pandemie. Ich hatte Hoffnung, dass sie diese Zeit überstehen könnte, denn sie lebte in einer Gegend mit niedrigen Infektionszahlen, bei mir sind die Infektionszahlen deutlich höher. Daher habe ich Abstand gehalten und wir haben nur noch telefoniert. Ich wollte sie schützen.
Leider war es vergebens. Corona hielt im Januar dieses Jahres Einzug in das Altenheim, in dem sie lebte. Sie starb nur einen Tag nach dem positiven Testergebnis. Das Schlimmste ist, dass ich sie so lange Zeit nicht gesehen habe und sie nicht in den Arm nehmen konnte. Und nun wird es nie wieder möglich sein. Sie fehlt mir sehr.
Ich habe das Gefühl, mir wurde das Herz herausgerissen
von C., Bremen
Am 30. Dezember unterzog sich meine Mutter, 74, einer Operation zum Einsetzen eines künstlichen Hüftgelenkes in einer Bremer Klinik. Dabei erlitt sie einen Wirbelbruch, der erneut im Krankenhaus behandelt werden musste. In der Klinik brach Corona aus, obwohl es dort ein Besuchsverbot gab. Auch meine Mutter und ihre zwei Mitpatientinnen bekamen Husten. Sie wurden alle drei positiv getestet. Der Husten war bei meiner Mutter schnell wieder vorbei. Dann bekam sie Fieber bis fast 40 Grad. Nur einen Tag, danach ging es ihr gut. Durch das Besuchsverbot telefonierten wir jeden Tag, schrieben uns über WhatsApp oder schickten Sprachnachrichten. Doch dann wurde ihre Sauerstoffsättigung plötzlich schlechter, meine Mutter schwächer. Am 30. Januar bekam ich die letzte Sprachnachricht von ihr. Sie war total geschwächt. Am 31. Januar ging es ihr so schlecht, dass sie sich nicht mehr melden konnte.
Am 2. Februar erhielten mein Stiefvater und ich ein Selfie mit Beatmungsmaske von meiner Mutter. Wir dachten, das sei ein gutes Zeichen und machten uns Mut: "Wenn sie so viel Kraft hat, ein Foto zu machen, dann geht's ihr besser!" Am 4. Februar wurde sie ins künstliche Koma versetzt. Weiterhin riefen wir regelmäßig an. "Unter der Beatmung stabil", hieß es. Immer. Am 7. Februar rief mittags der Arzt an und sagte, meine Mutter würde es nicht schaffen, die Organe versagen jetzt. Wir erhielten Besuchsrecht. Mein Stiefvater, mein 18-jähriger Sohn und ich mussten uns von meiner geliebten Mama verabschieden. Wir sagten ihr, wie sehr wir sie lieben. Dass sie die beste Mama, Oma, Ehefrau ist. Ich habe mich bedankt, dass sie immer für mich da war. Abends um 18:30 Uhr rief der Arzt an, dass sie nun verstorben sei …
Meine Mama wurde 1946 geboren und musste in ihrem Leben viele Verluste verkraften. Sie war eine liebevolle Oma für meine beiden Söhne und meine Tochter. Bis zuletzt war sie immer an allem interessiert, bei den Fußballspielen dabei, über WhatsApp ständig in Kontakt. Oft stand sie einfach vor der Tür, um mit mir Tee zu trinken und ihre drei "Mäuse" zu sehen. Meine Mama war nach den vielen Schicksalsschlägen und zunehmenden körperlichen Einschränkungen immer ein Stehaufmännchen. Nie hat sie sich gehen lassen. Ihre Devise: "Anderen geht's schlechter, nur die Harten kommen in' Garten." Sie war ein lebensfroher, lauter, lustiger Mensch. Bei jedem Telefonat und bei Nachrichten hat sie bis zuletzt immer nach ihren "Mäusen" gefragt. Ich habe das Gefühl, mir wurde das Herz herausgerissen. Ich sehe sie überall herumlaufen, höre ihre Stimme. Es quält mich, dass sie mit den Gedanken an ihre Enkel, meinen Stiefvater und mich im Krankenhaus lag, nicht mit uns sprechen konnte und wir nicht bei ihr sein durften. Sie war immer für uns da, wir konnten ihr das nicht zurückgeben. Das Bild, wie sie beatmet im Krankenhausbett liegt, werde ich nie wieder los. Meine liebe, liebe Mama.
Sagen Sie meiner Familie, dass ich wieder nach Hause möchte
von Nadine, Velbert-Langenberg
Es war der 14. April 2020, als mein Vater den Kampf gegen Corona und was es mit seinem Körper anstellte, verlor.
Er war erst 68 Jahre alt und wurde völlig unerwartet aus unserem Leben gerissen. Er hatte milde Symptome und von einer auf die andere Minute bekam er kaum noch Luft und meine Mutter musste den Rettungsdienst rufen. Es war ein Freitagabend. Schon am Samstag wurde er ins künstliche Koma gelegt und es folgten zweieinhalb Wochen voller Angst und Warten. Jeden Tag warten auf einen Anruf aus dem Krankenhaus und hoffen, dass es positive Nachrichten gibt. Es war ein Auf und Ab.
Meine Schwester kümmerte sich um die Anrufe vom Krankenhaus und informierte dann meine Mutter und mich, während ich jeden Tag meine Mutter mit Einkäufen versorgte und sie auf der Terrasse besuchte, da Corona auch sie erwischt hatte. Meine Schwester durfte nicht raus, da sie kurz vorher eine schwere Lungenentzündung hatte und so haben wir uns einfach aufgeteilt.
Es waren harte Wochen für unsere Familie und sind es immer noch. Unser Vater war nicht nur ein wundervoller Vater, der immer da war, sondern auch ein lustiger, lebensfroher und aufrichtiger Ehemann und Opa. Er hätte alles für uns getan und hatte so viele Pläne für die Zukunft. Seine letzten Worte waren im Krankenhaus: "Sagen Sie meiner Familie, dass ich wieder nach Hause möchte."
Unbegreiflich, wie das passieren konnte
von Marion
Meine Familie und ich haben im vergangenen Jahr innerhalb von vier Wochen drei Familienmitglieder durch Corona verloren. Bis heute beschäftigt uns das Geschehen, es ist immer noch unbegreiflich, wie das passieren konnte. Unsere Familie ist traumatisiert von dem Sterben unserer Angehörigen, das wir immer noch nicht fassen können. Ich möchte die "Chronologie des Wahnsinns", wie ich diese Wochen seither nenne, kurz zusammenfassen:
Anfang März 2020: Mein Vater kommt ins Krankenhaus, er ist schlecht beieinander. Ich besuche ihn regelmäßig.
12. bis 16. März: Mein Mann und ich werden krank – ohne wissen zu können, ob es sich dabei um Corona handelt.
Mitte März: Mein Vater wird vom Krankenhaus kurzfristig in ein Pflegeheim verlegt. Nach sieben Tagen wird er, weil er Fieber hat, wieder ins Krankenhaus eingeliefert.
Letzte Märzwoche: Meine Mutter stürzt zu Hause und wird in ein Krankenhaus gebracht. Dort wird sie auf Corona getestet und ist – positiv.
30. März: Mein Vater stirbt, Corona-positiv, im Krankenhaus. An seinem Todestag bin ich bei ihm. Er wurde 86 Jahre alt.
31. März: Meinem Mann geht es schlechter, er kommt ins Krankenhaus und wird in ein künstliches Koma gelegt – ohne dass ich die Gelegenheit hatte, noch einmal mit ihm zu sprechen. Im Krankenhaus wird er positiv auf Corona getestet.
1. April: Mein Sohn und ich werden auf COVID-19 getestet. Ich erhalte noch am Abend den Anruf, dass ich positiv bin. Mein Sohn und ich gehen in Quarantäne.
4. April: Meine Mutter stirbt, mit 86 Jahren, alleine, denn niemand darf in dieser Zeit zu ihr. Nur mein Bruder kann sie vor ihrem Tod noch einmal besuchen.
23. April: Mein Mann erlangt sein Bewusstsein nicht wieder und stirbt. Er wurde 62 Jahre alt. Ich bin am Tag seines Todes noch bei ihm. Am Wochenende zuvor habe ich zweimal wenige Minuten mit ihm telefonieren können, als er kurzzeitig wach war.
Es sind drei Tote in der Statistik, für viele geht es trotz der hohen Zahlen einfach weiter, es betrifft sie ja nicht. Aber wenn sich Menschen über die geltenden Regeln hinwegsetzen, werden wir einfach nur wütend. Wenn wir nur einen Zweifler oder Leugner mit unserer Geschichte dazu bringen, sich und andere zu schützen, war es die Erzählung wert.
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