Kaum ein anderes Land hat das Coronavirus so schnell eingedämmt wie die Insel im Nordatlantik. Von der raschen Reaktion der Behörden könnte nun die ganze Welt profitieren. Wie haben die Isländer das geschafft?
Falls das Coronavirus niedrige Temperaturen schätzt, hatten die Isländer Glück. Kein anderes Land in Europa hat SARS-CoV-2 so schnell hinter sich gelassen, wie die verregnete, meist kalte Insel im Nordatlantik.
An den meisten Tagen der letzten Wochen verzeichneten die Gesundheitsbehörden in Reykjavik nur noch eine Handvoll Fälle, seit einigen Tagen ist die Zahl der Neuinfektionen auf null gesunken. Insgesamt sind zehn Menschen an den Folgen einer Coronainfektion gestorben, alle anderen sind wieder gesundet. Somit ist Island als eines der ersten Länder der Welt praktisch frei von SARS-CoV-2 – und das ganz ohne harten Lockdown. Wie hat das Land das geschafft?
Die Isländer mögen auf einer abgeschiedenen Vulkaninsel leben, isoliert sind sie deshalb noch lange nicht. Der internationale Flughafen Keflavik im Südwesten des Landes zählt als Umschlagspunkt für den internationalen Frachtverkehr, Schnäppchenjäger legen dort gerne einen Zwischenstopp ein, um günstig zwischen Nordamerika und Europa hin und her zu jetten. Auf jeden Isländer kommen sechs Touristen im Jahr, die Gletscher, Geysire und saftig grünen Schluchten gibt es an keinem anderen Ort in Europa. Auch die Isländer selbst sind ein reiselustiges Volk, das Wort "flugskömm", angelehnt an das deutsche "Flugscham", hat es längst in die Wörterbücher geschafft.
Island wurde in Wien zunächst ignoriert
So waren es vermutlich auch Heimkehrer, die das Virus Ende Februar auf die Insel schleppten. Nach der Landung einer Icelandair-Maschine aus München zeigten am 29. Februar 15 Fluggäste Symptome, die auf die zu diesem Zeitpunkt bereits aus China bekannte COVID-19-Infektionskrankheit hindeuteten. Die Männer und Frauen waren allesamt im Alpenort Ischgl Skifahren, die nächsten zwei Wochen durften sie in Quarantäne verbringen.
Eine Woche später, am 5. März, klassifizierte die isländische Gesundheitsbehörde Ischgl zum Hochrisikogebiet – und stellte den Alpenort auf eine Stufe mit Iran, Südkorea und Wuhan. Chef-Epidemiologe Thorolfur Gudnason machte sogar eine Eingabe in das europäische Frühwarn- und Reaktionssystem zur Meldung von Epidemien (EWRS). Doch die Party in Österreich kannte zu diesem Zeitpunkt noch kein Ende: In der Après-Ski-Bar "Kitzloch", dem ersten großen Infektionsherd, reichte man noch Bier und Apfelstrudel, da testeten die Isländer ihre Rückkehrer schon systematisch auf das neuartige Virus. Erst am 7. März wurde auch in Ischgl der erste offizielle Fall gemeldet.
Rund drei Monate später zeigt sich, dass die rasche Reaktion der Behörden Island einen Vorsprung ermöglicht hat, der vielen Menschen womöglich das Leben rettete. Geholfen haben mag, dass Island nur über den Seeweg oder aus der Luft zu erreichen ist. Das erleichterte die Kontrolle darüber, wer einreiste und in welchem Gesundheitszustand. Zudem ist Island nach Grönland das am wenigsten dicht besiedelte Land in Europa. Auf einer Fläche, die 100 Mal Berlin entspricht, verteilt sich gerade einmal die Einwohnerzahl der Stadt Bonn. Die auftretenden Fälle ließen sich so rasch identifizieren und ihre Verbreitungswege zurückverfolgen.
Wenige Menschen schützen allerdings nicht vor Ansteckungen – zumindest nicht zwingend. Schließlich tummelt sich der Großteil der Menschen, wie in den meisten dünn besiedelten Ländern, in der Hauptstadt Reykjavik. Und in Schweden, ebenfalls spärlich besiedelt, liegt die Infektionszahl beim Dreißigfachen.
Die Pandemie kam nicht völlig überraschend
Island war aber besser vorbereitet. Seit 2004 hatte die Regierung Krisenpläne für eine Pandemie geschmiedet. "Wir haben verschiedene Partner in der Gesellschaft auf eine solche Situation vorbereitet, und so war es für uns relativ einfach, unsere Krisenpläne zu aktivieren", sagte Chef-Epidemiologe Gudnason, seit dem Corona-Ausbruch ein Medienstar, in einem Interview. Da mag ein wenig Koketterie mitschwingen, doch die Reaktion auf allen Seiten war rasch.
Unter der Webadresse "covid.is" gab Gundasons Behörde in acht Sprachen Tipps zum Social Distancing. Bevor überhaupt der erste Fall identifiziert war, informierte die Regierung in täglichen Pressebriefings über den aktuellen Stand. Die Medien verbreiteten Warnhinweise und Abstandsregeln. Und Rückkehrer aus Risikogebieten wurden konsequent isoliert und Infektionsketten bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgt. Dafür wurden sogar Krankenschwestern und Polizisten zu Detektiven ausgebildet. In der Bevölkerung finden diese Maßnahmen Anklang. 90 Prozent der Isländer sind zufrieden mit der Arbeit von Premierministerin Katrín Jakobsdóttir und der von ihr geführten Links-Rechts-Regierung.
Mit weitreichenden Tests folgten die Isländer auch der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Deren Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus bezeichnete das Testen und Verfolgen von Infektionsketten als "Rückgrat" zur Bekämpfung der Pandemie - noch vor dem Händewaschen und dem Einhalten von Abstandsregeln.
Als Glücksfall erwies sich die Kooperation mit dem privaten Forschungsunternehmen Decode Genetics, das umfangreiche Testkapazitäten zur Verfügung stellte, bereits vier Wochen vor dem ersten bestätigten Fall. Als mit der Touristengruppe aus Ischgl erstmals ein Test anschlug, wurden die Kapazitäten rasch erhöht. Nur an einem Wochenende drückte die Tochter der US-Biotechnologiefirma Amgen die Pause-Taste: Die Abstrich-Tupfer waren leer.
Kein anderes Land hat ähnlich viel gestestet
Rund 50.000 Menschen, also 13 Prozent der Bevölkerung, haben sich in den ersten sechs Wochen auf das Virus testen lassen, die meisten davon freiwillig und frei von Symptomen. In Südkorea, das international für sein engagiertes Testen gelobt wird, liegt der Wert bei einem Prozent. Damit hat Island Erkenntnisse gewonnen, die auch anderen Ländern bei der Bekämpfung der Pandemie helfen können: Etwa, dass 50 Prozent aller Infektionen in Island asymptomatisch verliefen und Corona deshalb auch von Menschen übertragen werden kann, die sich eigentlich gesund fühlen. John Ioannidis, Stanford-Professor und einer der führenden Epidemiologen, fasste es so zusammen: "Island ist das beste lebende Coronavirus-Labor."
Flankiert wurde die Testoffensive Mitte April von einer Corona-App, wie sie auch in Deutschland demnächst kommen soll. "Rackning C-19", isländisch für "Tracking", fragt Handynutzer mit einer positiven Corona-Diagnose, ob sie den Gesundheitsbehörden ihre letzten GPS-Standorte zur Verfügung stellen. Dann können Personen ermittelt werden, die in Kontakt mit einem Erkrankten gekommen und ebenfalls infiziert sein könnten. Die Daten werden datenschutzkonform auf dem Handy gespeichert und nur bei Zustimmung geteilt. 38 Prozent der Isländer, die traditionell als wissenschaftsfreundliches Volk gelten, haben die App auf ihrem Handy installiert. Das sind Werte, von denen man in anderen Ländern nur träumt.
Und die Erkenntnis? "Die Technik ist mehr oder weniger ... ich würde nicht sagen nutzlos", so Gestur Pálmason vom isländischen Polizeidienst, der die Kontaktverfolgungen überwacht, "aber es ist die Integration der beiden, die zu Ergebnissen führt." Pálmason zufolge hat sich die Technik in einigen Fällen als nützlich erwiesen, brachte aber bislang keinen Durchbruch.
Die Regierung wählt den Weg "Schweden light"
Das Bündel an Maßnahmen hat Island bislang vor einem Lockdown bewahrt, viele Maßnahmen sind milder ausgefallen als in anderen Teilen Europas. Die meisten Restaurants und Geschäfte blieben offen, solange Abstandsregeln eingehalten werden konnten. Auch Grundschulen und Kindergärten liefen weiter, Versammlungen bis 20 Menschen waren möglich. Seit 4. Mai sind zudem die Universitäten und Museen wieder geöffnet, für den Sommer werden sogar Veranstaltungen bis 2000 Menschen erwartet.
Nun macht sich Island allmählich an die Öffnung des Tourismus, einem der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren in dem Land. Seit dem 15. Mai können Geschäftsreisende, Filmemacher, Wissenschaftler und Sportler einreisen, sofern sie ein negatives Testergebnis vorweisen können. Einen Monat später sollen dann auch die Grenzen für normale Touristen öffnen. Um eine 14-tägige Quarantäne zu vermeiden, sollen jedem Einreisenden Tests zur Verfügung stehen. Ob diese kostenlos sind, ist noch unklar.
Verwendete Quellen:
- Insider: Iceland plans to reopen for tourists by June 15, with COVID-19 tests available for every arrival
- NBC News: Iceland employs detective work, testing and quarantine in coronavirus fight
- Business Insider: Iceland is allowing everyone in the country to be tested for the coronavirus
- US News: What Iceland Can Teach the World About Minimizing COVID-19
- Time Magazine: Iceland Has Tested 13% of Its Entire Population for Coronavirus. Here’s What Health Authorities Found
- Geekwire: COVID-19 lessons from Iceland: How one Nordic country has all but stopped the virus in its tracks
- Medium: Did Iceland Know Coronavirus Was Coming?
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