• Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz steigt seit zwei Wochen wieder an.
  • Derzeit klettert der Wert nur langsam, das Problem: Wenn exponentielles Wachstum begonnen hat, ist es meist schon zu spät, um gegenzusteuern.

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Langsam aber stetig steigt die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz an. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) von Dienstagmorgen lag der Wert bei 10,9 – am Vortag betrug er noch 10,3. Das ist nach wie vor nicht viel, die kritische 35er-Marke scheint weit weg.

Allerdings: Seit die Inzidenz am 6. Juli mit 4,9 ihren diesjährigen Tiefststand erreicht hat, klettert der Wert unentwegt nach oben, innerhalb von zwei Wochen hat er sich verdoppelt. "Die Infektionszahlen steigen wieder und absehbar weiter – wir sind beim Impfen im Wettlauf mit der Delta-Variante", twitterte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Samstag.

SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Karl Lauterbach warnte am Montag ebenso auf Twitter: "Die Fallzahlen steigen zu früh so stark."

Auch Wissenschaftler der Technischen Universität Berlin werten den Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenz als "beunruhigend". Warum schlagen dieser Tage so viele Experten Alarm?

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Warum der R-Wert entscheidend ist

Für die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Coronavirus entscheidend ist die Reproduktionszahl. Die gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person im Mittel ansteckt. Liegt dieser sogenannte R-Wert anhaltend über 1, steigen die Fallzahlen. Liegt er für längere Zeit unter 1, flaut das Infektionsgeschehen ab.

Und: Je höher der Faktor – also je weiter weg von 1 –, desto schneller ist der Anstieg. Innerhalb weniger Tage schießen dann die Fallzahlen in die Höhe, so wie etwa in Großbritannien und Portugal seit Anfang Juni oder besonders extrem in den Niederlanden seit drei Wochen zu beobachten.

Ähnliches könnte auch in Deutschland passieren, denn der R-Wert ist zuletzt ebenso wie die Fallzahlen gestiegen. Der Wert lag nach RKI-Daten am Dienstag bei 1,16, das heißt: 100 Infizierte stecken rechnerisch 116 weitere Menschen an.

Vergleich zwischen Pandemie und Geldanlage

Angesichts dessen könnten die Zahlen in der Bundesrepublik binnen kürzester Zeit stark ansteigen. Ein exponentieller Anstieg scheint anfangs "sehr langsam", ehe er sich "dann immer weiter beschleunigt", erklärt Jan Fuhrmann vom Forschungszentrum Jülich. Bei einem konstanten R-Wert über 1 geht der Anstieg von einer 10er- auf eine 20er-Inzidenz ähnlich schnell – oder langsam, je nach Sichtweise – wie von 100 auf 200.

Statistik-Professor Helmut Küchenhoff von der Ludwig-Maximilians-Universität München vergleicht den R-Wert der Pandemie mit der Zins-Entwicklung: "Ist der Zinssatz nicht so hoch, dauert es lange, bis sich das Geld vermehrt. Ist er höher, wird man schneller reich." Zudem komme es darauf an, wie viel Geld überhaupt vorhanden ist.

"So ist es auch bei Infektionen: Wenn viele schon krank sind, können die auch mehr anstecken", sagt Küchenhoff. "Exponentielles Wachstum ist nicht gleich starkes Wachstum", stellt er klar.

Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis

Alle Vorhersagen auf Basis des R-Wertes sind zuerst einmal rein theoretischer Natur. Aussagen über exponentielles Wachstum seien vor allem im Modell leicht zu machen, sagt André Scherag vom Institut für Medizinische Statistik, Informatik und Datenwissenschaften des Universitätsklinikums Jena. Die Realität ist komplexer.

So würden aktuell verschiedene Maßnahmen gelockert, Impfungen und durchgemachte Infektionen hätten Auswirkungen, und verschiedene Coronavirus-Varianten seien unterschiedlich ansteckend. Die Effekte überlagerten sich und das einfache Modell greife nicht mehr. "Zwar kann man dann einen R-Wert auf Basis der existierenden Daten berechnen", sagt der Professor. "Eine einfache Interpretation ist in der Regel nicht mehr möglich."

Auch Küchenhoff betont, Modellrechnungen seien mit großen Unsicherheiten verbunden, die beim Erstellen mehr oder weniger gut berücksichtigt werden können. Er spricht von "stochastisch exponentiellem Wachstum", das also in Teilen vom Zufall abhängt.

"Menschen neigen dazu, in linearen Zusammenhängen zu denken"

Verwirrend? "Das Problem ist, dass wir Menschen uns exponentielle Entwicklungen nur schwer vorstellen können", sagt Scherag. "Menschen neigen dazu, in linearen Zusammenhängen zu denken." Erschwerend hinzu komme, dass lineares und exponentielles Wachstum am Anfang oft kaum unterscheidbar sind.

Der Statistiker bemerkt: "Wenn Sie merken, dass Sie im exponentiellen Wachstum stecken, ist es meist schon zu spät, um gegenzusteuern." (dpa/mf)

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