- Nirgendwo in Deutschland ist, gemessen an der Einwohnerzahl, der Corona-Infektionswert höher als im Landkreis Hildburghausen.
- Gerade dort demonstrierten am Mittwoch einige hundert Menschen gegen den Lockdown und sorgten damit für Fassungslosigkeit.
- Unsere Redaktion hat sich im Landkreis umgehört, um eine Erklärung für den Protest zu finden.
Die Aufregung in Hildburghausen ist groß. Die Südthüringer Kleinstadt und der umliegende gleichnamige Landkreis mit seinen etwa 63.000 Einwohnern steht plötzlich bundesweit im Fokus: Nirgendwo in Deutschland ist, gemessen an der Einwohnerzahl, der Infektionswert höher als in der Region an der Grenze zu Bayern.
Am Donnerstag gab es laut dem Robert-Koch-Institut (RKI) mit 602,9 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche einen neuen Rekord. Das RKI führte deshalb auf seiner Deutschlandkarte sogar eine neue Farbe für den Landkreis ein.
Ausgerechnet in Hildburghausen gingen am Mittwochabend hunderte Menschen gegen einen strengen regionalen Lockdown auf die Straße. Singend zogen sie durch die Stadt, wie Videos zeigen. Viele trugen keinen Mund-Nasen-Schutz und hielten den Mindestabstand nicht ein.
Die Polizei löste den Protest nach knapp zwei Stunden mit Pfefferspray auf. "Die Demonstranten sollten davon abgehalten werden, auf die Bundesstraße zu gehen. Das wollten einige nicht begreifen", erklärte ein Polizeisprecher auf Nachfrage unserer Redaktion. Weil sich einige Teilnehmer der Aufforderung der Beamten "verbal" widersetzt hätten, habe die Polizei Pfefferspray eingesetzt. 30 Teilnehmer erhielten demnach eine Anzeige wegen Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz.
Landes- und Kommunalpolitiker zeigten sich ob der Bilder fassungslos. "Was muss denn noch passieren, bis manche den Ernst der Lage begreifen?", fragt etwa Hildburghausens Bürgermeister Tilo Kummer (Die Linke) auf Facebook.
Wie sind die Proteste inmitten eines Corona-Hotspots zu erklären? Unsere Redaktion hat sich im Landkreis umgehört.
"Ich bin nicht links, ich bin nicht rechts – ich bin pleite!"
Während der vergangenen Monate registrierte der ländlich geprägte Kreis nur sehr wenige neue Corona-Fälle. Vor genau einem Monat lag die Gesamtzahl der seit Beginn der Pandemie Infizierten bei 138, aktuell schon bei 981. Im selben Zeitraum starben neun positiv getestete Menschen (insgesamt zehn).
Landrat
"Viele Leute sind frustriert und sagen: Ich bin nicht links, ich bin nicht rechts – ich bin pleite!", sagt Florian Kirner, erster Vorsitzender des Hildburghäuser Werberings. Dem Wirtschaftsverbund gehören etwa 70 lokale Unternehmen an: die örtlichen Bankhäuser, ein Baumarkt, Handwerksbetriebe, Versicherungsagenturen, Gastronomen, Friseure und viele Ladenbesitzer.
"Die klare Mehrheit der Verbundsmitglieder steht wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand", erklärt Kirner, der selbst Veranstalter und Musiker ist. Die meisten Unternehmen hätten den ersten Lockdown noch recht gut weggesteckt, nun sei die Stimmung "richtig schlecht".
Weihnachtsgeschäft bricht weg
"Bei vielen Läden ist von einem zum anderen Tag gar kein Kunde mehr gekommen – es schaut auch kein Politiker vorbei und fragt, wie es geht", klagt der 45-Jährige. Mit dem verlängerten Lockdown breche für die Einzelhändler das gesamte Weihnachtsgeschäft weg. "Auch die staatliche Novemberhilfe hat noch kein Einziger bekommen", sagt Kirner.
Ihm zufolge sind einige Mitglieder des Wirtschaftsverbunds bei dem Protest mitgelaufen, "das habe ich auf den Videos gesehen". Er selbst findet es aber "total falsch, sich ohne Masken zu versammeln". Es sei "klar", dass gegen die Pandemie etwas getan werden muss.
"Aber es hilft nicht, eine Atmosphäre der Angst zu schaffen und zu behaupten, dass ein totaler Ausnahmezustand herrscht. Wir im Landkreis sind mit zwei Krankenhäusern gut ausgestattet. Die Situation ist bedenklich, aber nicht katastrophal", bemerkt Kirner.
Laut DIVI-Intensivregister gibt es im Landkreis insgesamt sieben Intensivbetten, die allerdings derzeit alle belegt sind – davon eins mit einem COVID-19-Patienten, der invasiv beatmet werden muss. "Wir bekommen Probleme, das Lebensnotwendige zu organisieren, wenn die Infektionszahlen weiter steigen", sagte Bürgermeister Kummer der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Er verwies darauf, dass es auch Corona-Fälle bei Rettungsdiensten und Feuerwehren gebe.
Versäumnisse des Landratsamtes?
Unternehmer Kirner wirft dem Landratsamt hingegen "Führungsversagen" vor. Dem gebürtigen Bayern zufolge hat das Amt im Sommer, als das Infektionsgeschehen sehr niedrig war, "dermaßen überhart durchgegriffen, dass es die Leute gegen sich aufgebracht hat".
Zudem hätten viele Gewerbetreibende von den verschärften Maßnahmen im Landkreis erst aus der Zeitung erfahren. "Ich verstehe, dass die Verwaltungen total überfordert sind. Aber in der aktuellen Situation müssen wir alle an einem Strang ziehen. Die Politik muss die Leute mitnehmen – das hat sie verpasst."
Unsere Redaktion hat das Landratsamt mit den Vorwürfen konfrontiert und um eine Stellungnahme gebeten. Bis Redaktionsschluss lag noch keine Antwort vor. Telefonisch entschuldigte sich eine Mitarbeiterin der Behörde, dass man derzeit Anfragen aufgrund der Situation nur sehr langsam bearbeiten könne.
"Es fehlt das Verständnis für die Maßnahmen. Die Information war bisher nicht die beste", gesteht Bürgermeister Kummer. Das sei ein Stück weit auch als Selbstkritik gemeint. Auch mit dem Landratsamt sei besprochen worden, den Informationsfluss zu verbessern, sagte er der dpa.
Rechtsextreme haben die Proteste womöglich angefacht
Thomas Vollmar ist ebenfalls Unternehmer im Landkreis. Die Coronakrise hat auch seine Produktionsfirma für elektrische Baugruppen getroffen, wie er am Telefon erzählt.
"Einzelne Regelungen kann ich ebenso wenig nachvollziehen, wie etwa die Gastronomie zu schließen. Aber ich kann doch deswegen nicht das Ganze negieren", bemerkt der Ex-FDP-Kreisvorsitzende. "Dass ausgerechnet jetzt ein paar hundert Leute gegen die Maßnahmen protestieren, kann ich nicht nachvollziehen. Demonstrieren ja – aber nicht auf Kosten anderer."
Angefacht haben die Proteste womöglich auch rechtsextreme Kader. Die Teilnehmer seien organisiert gewesen und formiert durch Hildburghausen gezogen, sagte Landrat Müller der dpa. "Die sind untereinander alle vernetzt, das ist dasselbe Strickmuster wie in Leipzig und Berlin – nur kleiner."
Es habe eine aggressive Stimmung geherrscht, Mitarbeiter des Ordnungsamtes und Polizeibeamte seien beschimpft worden. Nach Angaben von Bürgermeister Kummer sprachen die Teilnehmer von einem "Spaziergang". Es habe bereits seit Tagen Aufrufe im Netz gegeben, einige Teilnehmer hätten Transparente und Kerzen getragen.
Örtlicher Neonazi mobilisierte
Ein Kenner der örtlichen rechtsextremen Szene bestätigt im Gespräch mit unserer Redaktion, dass die Kundgebung "nicht spontan" gewesen sei. Einladungen für den Mittwochabend seien über Messengerdienste verschickt worden. So habe etwa der Neonazi und Kreistagsabgeordnete Tommy Frenck "intensiv" mobilisiert. Frenck selbst postete etliche Videos und Fotos vom Abend in seinem Telegram-Kanal und auf Facebook.
Der Polizei zufolge wurde der Protest allerdings nicht von Rechtsradikalen organisiert. "Aktuell gibt es keine Hinweise auf einen rechten Initiator", sagte die Sprecherin der Landespolizeiinspektion Suhl, Julia Kohl, der dpa.
Für den kommenden Mittwoch ist bereits die nächste Demonstration angekündigt, schreibt das Grünen-Landesvorstandsmitglied Katharina Schmidt auf Twitter. Laut Polizei lag am Donnerstag aber noch keine Anmeldung dafür vor. Das muss nichts heißen: Eine solche gab es auch am gestrigen Tag nicht.
Verwendete Quellen:
- Telefonat mit Florian Kirner, erster Vorsitzender des Hildburghäuser Werberings
- Telefonat mit Thomas Vollmar, Unternehmer
- Telefonische Nachfragen beim Landratsamt und der Polizeiinspektion Hildburghausen
- Meldungen der Deutsche Presse-Agentur
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