Der Mehrheit der Deutschen trägt auch den neuen Lockdown tapfer mit. Doch die Politik wird immer lauter kritisiert. Denn ihre Fehler in der Corona-Pandemie häufen sich.

Dr. Wolfram Weimer
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht des Autors dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.

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Die Mehrheit der Deutschen trägt den Weihnachtsshutdown diszipliniert mit. Doch der Rückhalt der deutschen Corona-Politik schwindet. Hatte die Regierung im Frühjahr die Bevölkerung noch fast geschlossen hinter sich, so wachsen allenthalben Skepsis und Kritik.

Vom Linken Oskar Lafontaine über Julian Nida-Rümelin (SPD) und Christian Lindner (FDP) bis zu Robert Habeck (Grüne) formiert sich jetzt eine politisch breite Opposition. Die insgesamt lauter werdende Kritik hat nicht nur mit Ermüdung, Ängsten und Frustration zu tun. Die Regierungspolitik hat mit einer Reihe von Fehlern das Grundvertrauen selber untergraben.

1. Es gibt keine langfristige Strategie

Die deutsche Politik fährt nach eigener Aussage in der Pandemie "auf Sicht". Seit Monaten fährt sie schon so. Dabei wäre es dringend geboten, wenn man wüsste, wohin sie fährt. Dass Berlin bei Ausbruch der unbekannten Krankheit spontan einen umfassenden Lockdown anordnete, war legitim und für alle nachvollziehbar. Man wusste nicht genau, womit man es mit COVID-19 wirklich zu tun hatte.

Doch spätestens im Sommer, als man das Virus, die Verläufe, die Mortalitäten und Risikogruppen genau kannte, hätte eine Strategie entwickelt werden müssen, wie Deutschland langfristig zu neuer Normalität mit dem Virus finden kann. Doch die blieb aus.

Stattdessen wiederholt sich im Winter die hektische Verbotspolitik. Der kollektive Lockdown ist das gröbste, beinahe mittelalterliche Schwert, das die Politik aus schierer Ratlosigkeit zückt. Während viele asiatische Länder intelligente Wege finden mit digitaler Technik und Zielgruppenschutz eine neue Normalität zu definieren, fällt Deutschland wieder in alte Ausnahmezustände und kollektive Notwehrsituation zurück.

Was aber passiert im Februar und März, im Juni und September 2021? Wird bei jeder wieder steigenden Inzidenzzahl abermals ein Lockdown angeordnet? Das Fehlen einer langfristigen Strategie wird von einer breiten gesellschaftlichen Koalition immer lauter angemahnt.

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2. Die Corona-App ist miserabel

Die Corona-App ist 23 Millionen Mal heruntergeladen worden, sie kostet 69 Millionen Euro, sie sollte das zentrale Instrument zum Infektionsschutz werden, doch sie nutzt kaum etwas. Der politisch gewollte Datenschutz in Deutschland führt dazu, dass genau die Daten, die man für einen wirksamen Schutz der Bevölkerung eigentlich bräuchte (Informationen von Laboren, Gesundheitsämtern, Geo-Trackings), überhaupt nicht nutzt.

Während asiatische Länder große Erfolge mit tief vernetzten Apps erzielen und - etwa in Taiwan - damit Lockdowns völlig vermeiden können, ist die deutsche App weitgehend wirkungslos. Selbst Markus Söder hält sie für unbrauchbar: "Die App ist leider bisher ein zahnloser Tiger. Sie hat kaum eine warnende Wirkung." Die FDP hält sie sogar für "grauenhaft schlecht". Digitalexperten fordern seit Monaten Updates - doch die Politik wagt sich nicht, den Datenschutz zum Schutz von Menschenleben endlich zu lockern.

3. Die Risikogruppen werden nicht systematisch geschützt

Immer mehr Wissenschaftler und Experten empfehlen der Politik, für die Pandemiebekämpfung nicht alle wahllos einzusperren sondern sich auf den Schutz der Risikogruppen zu konzentrieren - also auf Hochbetagte und Vorerkrankte.

Das Durchschnittsalter der Todesfälle liegt bei 83 Jahren. Für den Großteil der Bevölkerung ist Corona kein außergewöhnliches Risiko. Für Risikogruppen aber ist es viel gefährlicher, tödlicher als übliche Grippen. Also müsste man sich um diese besonders kümmern. Tatsächlich aber blieben Altersheime über den Sommer hinweg ohne durchgreifende Schutzmaßnahmen weitgehend sich selbst überlassen.

4. Die demokratische Legitimation ist brüchig

Zentrale Entscheidung der Pandemiebekämpfung - etwa die Lockdownverfügungen - sind nicht von Parlamenten, sondern von Küchenkabinetten gefällt worden. Die zerstrittene Runde aus Kanzleramt und Ministerpräsidenten ist zum zentralen Entscheidungsorgan der Pandemie geworden - der Bundestag spielte über Monate nur eine Randrolle, selbst als reihenweise Grundrechte der Bevölkerung massiv eingeschränkt wurden.

Dies führt zu einem Legitimationsdefizit der Corona-Politik, es vertieft das Misstrauen in der Bevölkerung und befördert reihenweise Verordnungen, die von Gerichten als rechtswidrig wieder kassiert werden.

5. Die Rettungspakete funktionieren schlecht

Die Politik der groben Lockdowns verursacht unnötig große Flurschäden in Wirtschaft und Mittelstand. Für 2021 wird eine gewaltige Pleitewelle in Deutschland erwartet. Die Politik verspricht großzügige Hilfen. Doch häufig kommen die Hilfen zu spät oder gar nicht an, übersehen sie wichtige Gruppen, führen zu Mitnahmeffekten und verzerren Märkte. Die vollmundig versprochenen Novemberhilfen sind sogar "wegen Softwareproblemen" noch gar nicht ausgezahlt.

6. Die Kollateralschäden der Lockdown-Politik sind bitter

Die Lockdown-Politik findet ihre Legitimation durch das hohe Ziel, Menschenleben zu retten. Doch die Wahrheit ist, dass sie zugleich Menschenleben kostet. Ärzte warnen seit Monaten eindringlich, dass viele Herzinfarkt-, Schlaganfall und Krebspatienten infolge der Corona-Politik nicht mehr ins Krankenhaus gingen.

Zigtausende von Operationen werden verschoben, Vorsorgeuntersuchungen würden millionenfach unterlassen, Selbstmorde häufen sich, wenn die politische Kommunikation die Grenze zur Angstmacherei überschreite.

Kollateralschaden dieser Politik gibt es auch in globaler Dimension: Lockdowns in großen Industriestaaten führen dazu, dass mit dem Unterbrechen von Lieferketten viele Arme in der Dritten Welt unmittelbar in Elend, Hunger und Tod getrieben werden.

7. Die Krisen-Kommunikation ist flatterhaft

Kommunikatives Irrlichtern prägt seit Monaten die Corona-Politik. Von der anfänglichen Verharmlosung ("Corona verläuft milder als die Grippe") über die Maskenfarce ("Das sind Virenschleudern") bis zur kommunikativen Sprunghaftigkeit in den Quarantäne-Kriterien hat Deutschland ein abenteuerliches Ansage-Durcheinander erlebt.

Eifersüchtige Ministerpräsidenten widersprachen sich, Regeln wurden angekündigt und revidiert, Pathos und Ohnmacht wechseln kommunikativ ab. "Man würde mit dem Wissen von heute keinen Einzelhandel mehr schließen", sagte Gesundheitsminister Jens Spahn am 1. September. "Das wird nicht noch mal passieren." Nun wird der Einzelhandel komplett geschlossen.

8. Die Impfungen kommen zu spät.

Deutschland (einst die Apotheke der Welt) hat seine Pharmaindustrie durch politische Auflagen in der vergangen Jahren strategisch geschwächt. Wichtige Arzneimittel müssen inzwischen importiert werden, die Forschungsstandort fällt zurück. Immerhin wurde nun in Deutschland (von der Mainzer Firma Biontech) einer der ersten Impfstoffe entwickelt.

Doch während in Großbritannien, den USA und Kanada bereits geimpft wird, wartet Deutschland auf bürokratische Genehmigungsverfahren. Der erste Deutsche wurde letzte Woche geimpft – in England.

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