Die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland steigt kontinuierlich an. Die 2.000er-Schwelle wurde zum ersten Mal seit Ende April wieder überschritten. Das Virus breitet sich zunehmend in der Fläche aus. Experten sehen diese Entwicklung mit Sorge. Wie lang kann das gut gehen?

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Lange schien die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland unter Kontrolle: Schulen werden wieder geöffnet, selbst Urlaub im Ausland ist wieder möglich. Von Hotspots ist im August kaum noch die Rede.

Doch ein anderer Trend bereitet Wissenschaftlern Sorge: Langsam breitet sich das Virus in der Fläche aus. Und die Zahl der Neuinfektionen steigt - nun sogar wieder auf über 2.000 innerhalb eines Tages. Doch wie viele solcher Fälle hält das Gesundheitssystem auf Dauer aus?

Virus verstreut sich im ganzen Land

Die Zahl der Kreise, die in den vergangenen sieben Tagen keine neuen COVID-19-Fälle meldeten, lag Mitte Juli noch bei 125. Etwa einen Monat später sind es nach RKI-Angaben nur noch rund 20 Kreise.

"Dadurch dass sich die Menschen in den letzten Wochen viel mehr bewegen und in den Urlaub reisen, kommt es zu einer Streuung des Virus im ganzen Land", erklärt der Mediziner Max Geraedts, der an der Universität Marburg das Institut für Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie leitet.

Viel mehr Gemeinden und Landkreise bekommen das Coronavirus daher nun zu spüren. Geraedts Sorge ist, dass dieser Trend dazu führen könnte, dass dann vielerorts viele Menschen gleichzeitig in Quarantäne müssten.

"Doch die bräuchten wir eigentlich an vielen Stellen in unserer Gesellschaft - ob als Lehrerin, Kitamitarbeiterin oder Pflegekraft", betont der Professor.

2.034 Neuinfektionen binnen eines Tages

Längst hat auch die Politik die Lage erkannt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder wollen am kommenden Donnerstag über das weitere Vorgehen beraten.

Im Juni hatten sie sich das letzte Mal über den Kurs in der Coronakrise abgestimmt. Merkel bezeichnete die ansteigenden Corona-Fallzahlen - noch bevor die 2.000er-Marke überschritten war - als besorgniserregend, aber noch beherrschbar.

Die Gesundheitsämter in Deutschland meldeten 2.034 Neuinfektionen binnen eines Tages, wie das RKI am Samstag mitteilte. Das ist der höchste Wert seit Ende April. Von dem bisherigen Höhepunkt mit mehr als 6.000 täglichen Neuansteckungen zwischen Ende März und Anfang April ist dieser aber noch entfernt.

Eines der wichtigsten Mittel, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, ist die Kontaktnachverfolgung. Es sei ein "sehr, sehr mächtiges Instrument", sagt Viola Priesemann, Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen - insbesondere dann, wenn die Verfolgung schnell ausgeführt werde.

Ein Kipppunkt im System

Die Gesundheitsämter nehmen bei der Nachverfolgung eine zentrale Rolle ein. Steigende Infektionszahlen und die Testungen der Reiserückkehrer sorgten zuletzt bereits für ein stärkeres Arbeitsaufkommen in den Ämtern, bestätigte die Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst (BVÖGD), Ute Teichert, Anfang August der dpa.

Noch liege das Pensum nicht auf dem Niveau wie im März oder April. Das Problem sei aber nach wie vor die Personalsituation. Hilfskräfte etwa aus der Verwaltung seien mittlerweile meist an ihre eigentlichen Arbeitsorte zurückgekehrt.

"Wenn die Zahlen wieder ansteigen, brauchen die Gesundheitsämter daher wieder mehr Personal, die bei der Verfolgung der Infektionsketten helfen", sagte Teichert.

Denn eines soll möglichst verhindert werden: Dass die Zahl der Neuinfektionen die Kapazität der Gesundheitsämter übersteigt. Dies sei ein Kipppunkt im System, sagt Priesemann.

"Wenn dieser Kipppunkt eintritt, dann läuft das Wachstum der Fallzahlen noch schneller ab und das Virus lässt sich noch schwieriger wieder einfangen", erklärt die Forscherin. Denn die Nachverfolgung sei dann nicht mehr so effektiv wie vorher. "Das ist so wie beim Tauziehen, wenn einer plötzlich nicht mehr mitziehen kann."

Jeder Einzelne kann einen Beitrag leisten

Soweit ist es aber nach Ansicht der Experten noch nicht. "Diesen Kipppunkt haben wir aber noch nicht erreicht, denn noch befinden wir uns nicht in der Phase eines explosionsartigen Wachstums", sagt Geraedts. Doch lässt sich abschätzen, wie weit es bis dahin ist?

"Niemand weiß genau, wo der Kipppunkt liegt, an dem die Situation nicht mehr gut beherrschbar ist. Es gibt nicht die eine Zahl von Neuinfektionen, ab der die Kontakte nicht mehr nachverfolgt werden können", erklärt Priesemann, die sich mit Strategien zur Eindämmung des Coronavirus beschäftigt.

Neben der Kapazität der Gesundheitsämter hänge die weitere Entwicklung auch vom Verhalten der Bevölkerung ab.

"Denn mit Technologie wie Kontaktnachverfolgung und Testen können wir die Ausbreitungsdynamik - nach unseren Modellberechnungen - nur ein Stück weit ausgleichen", sagt Priesemann.

Stattdessen könne jeder Einzelne einen Beitrag leisten: "Wenn man Symptome hat, bleibt man zuhause. Und wenn man dann tatsächlich positiv getestet wurde, kann man eventuell auch selbst die Freunde und Bekannten, mit denen man Kontakt hatte, informieren."

Fallzahlen bereiten Mediziner mit Blick auf Herbst Sorgen

Auch auf den Intensivstationen haben die steigenden Corona-Fallzahlen noch nicht zu einem signifikanten Anstieg bei der Auslastung geführt. Die Kliniken seien von einer "bedrohlichen Situation" daher noch weit entfernt, sagt der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Uwe Janssens.

Ein Grund sei, dass sich zurzeit vor allem jüngere Menschen mit dem Virus anstecken, die weniger schwer an COVID-19 erkranken. Außerdem vergingen nach einer Infektion in der Regel 13 bis 14 Tage bis ein Schwerkranker auf einer Intensivstation lande.

"Bis wir den Anstieg der aktuellen Corona-Fälle auf den Intensivstationen zu spüren bekommen, dauert es daher noch etwa ein bis zwei Wochen", so Janssens.

Dem Intensivmediziner bereiten die aktuell steigenden Fallzahlen eher mit Blick auf den Herbst und Winter Sorge. "Wir müssen auch bedenken, es gibt ja nicht nur das Coronavirus. Wir wissen, es kommt der Herbst, der Winter mit der Influenza und dem Norovirus", erklärt der Chefarzt.

Die dann zunehmenden Erkrankungen der oberen und unteren Atemwege werde es schwer machen, diese von COVID-19 zu unterscheiden. "Das wird uns vor zusätzliche Herausforderungen stellen", ist sich Janssens sicher. Alles was daher jetzt dazu diene, den Anstieg der Infektionszahlen zu entschleunigen, sei hilfreich für den Herbst. (ff/dpa)

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