• Dass der Impfstoff Sputnik Veine eine hohe Wirksamkeit hat, wird kaum bestritten; dennoch hat die EU derzeit nicht vor, ihn zu bestellen.
  • Skeptisch machen Fachleute vor allem die Umstände der Zulassung des Vakzins in Russland - und dass offenbar nicht alle Daten zu vorliegenden Studienergebnissen verfügbar sind.
  • Hinzu kommt wohl die Sorge, dem russischen Präsidenten Putin mit der Nutzung von Sputnik V zu einem Imagegewinn zu verhelfen.
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2,6 Milliarden Impfstoffdosen von sechs Herstellern hat sich die Europäische Union (EU) inzwischen gesichert. Zwar sind zwei der sechs Präparate noch nicht zugelassen, dennoch reicht die Menge rein rechnerisch deutlich für die rund 450 Millionen Einwohner der EU. Es sind aber noch nicht alle Impfdosen produziert, geschweige denn da, weshalb sich einige EU-Staaten für einen weiteren Impfstoff interessieren: das russische Vakzin Sputnik V.

Bedenken wegen Nicht-Einhaltung ethischer Standards?

In Ungarn wird es zum Beispiel schon verimpft, doch auch in Deutschland besteht Interesse: Bayern und Mecklenburg-Vorpommern sind in Verhandlungen mit Russland, ebenso sagte Gesundheitsminister Jens Spahn, es gebe auf Bundesebene Gespräche über einen Vorvertrag - allerdings sei ein Einsatz des Impfstoffs nur bei einer Zulassung durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) denkbar.

Das Prüfverfahren für Sputnik V läuft seit Anfang März. Wann mit einer Zulassung gerechnet werden kann, ist unklar. Zuletzt gab es Berichte darüber, dass die EMA prüfe, ob bei den Studien in Russland alle ethischen und wissenschaftlichen Standards erfüllt wurden. Offenbar hatten Studienteilnehmer erklärt, sie seien von Vorgesetzten unter Druck gesetzt worden, mitzumachen.

Sputnik-1 war einer der größten technologischen Erfolge der UdSSR

Zudem sehen es einige Wissenschaftler kritisch, dass Sputnik V in Russland zugelassen wurde, bevor die Phase-III-Studie mit tausenden Probanden abgeschlossen war. Auch andere Berichte deuten Probleme an: Das EU-Land Slowakei hatte angeblich Schwierigkeiten, an Studiendaten zu kommen, zudem sollen Wissenschaftler Ungereimtheiten bei einer großen Wirksamkeitsstudie festgestellt haben.

Neben dieser Unklarheiten und Bedenken, die von russischer Seite meist als Fake News bezeichnet werden, dürfte aber auch etwas anderes eine Rolle spielen: die Sorge, dass eine Verwendung des russischen Impfstoffes, der den Namen eines der größten technologischen Erfolge des Landes trägt, Präsident Wladimir Putin einen Imagegewinn bringen könnte.

Gesundheitsvorsorge ist per se politisch

"Impfen ist immer politisch", sagt dazu der Historiker Malte Thießen, der sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte der Gesundheitsvorsorge befasst. Schon seit dem 19. Jahrhundert sei Impfen ein effektives Mittel in der Gesellschaftspolitik, denn immer wenn es um dieses Thema gehe, stellten sich damit auch gesellschaftliche Fragen, etwa: Wie erreichen wir einen Herdenschutz? Wie schützen wir die verletzlichen Mitglieder einer Gesellschaft? "Ein Staat kann sich damit gegenüber seinen Bürgern sehr gut als sozial und fürsorglich profilieren", sagt Thießen.

Im 20. Jahrhundert kam neben diesem innenpolitischen Aspekt noch ein außenpolitischer dazu. Denn das Impfen wurde zu einer Art Leistungstest einer Gesellschaft - auch im Vergleich mit anderen Gesellschaften. "Das", so Thießen, "sei auch in der Corona-Pandemie zu merken, wo es ebenfalls Rankings mit Impfquoten gibt und die Annahme über die Spitzenreiter meist ist: Die tun etwas für ihre Bevölkerung."

Impfwettstreit im Kalten Krieg

Ein prominentes Beispiel für die außenpolitische Dimension des Impfens ist Polio (Kinderlähmung). In den 1950er Jahren, mitten im Kalten Krieg, hatte die DDR vor der BRD einen wirksamen Impfstoff dagegen entwickelt. Nach einer großen Epidemie im Ruhrgebiet 1961 bot sie der Bundesrepublik gar vier Millionen Dosen an. "Nach dem Motto: Wir sind ohnehin alle immun und brauchen diesen Impfstoff gar nicht", sagt Historiker Thießen.

Bundeskanzler Konrad Adenauer lehnte das Angebot damals ab - und zwar aus Erwägungen heraus, die womöglich auch heute eine Rolle spielen, wenn es um Sputnik V geht. "Adenauer fürchtete einen Propaganda-Coup der DDR, verbunden mit der Sorge, dass der Eindruck entsteht, man sei vom Systemgegner abhängig und die DDR würde als 'das bessere Deutschland' dastehen", so Thießen.

"Die Pandemie-Bekämpfung sollte an oberster Stelle stehen"

Doch ist es in einer Pandemie wirklich von Bedeutung, ob der Ankauf eines Impfstoffes wie das Eingeständnis einer Niederlage wirken könnte? Die Historikerin Susanne Schattenberg von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen denkt, dass solche Erwägungen durchaus eine Rolle spielen, hält das aber für politisch unklug. "Die Pandemie-Bekämpfung sollte eigentlich an oberster Stelle stehen“, sagt sie. Schattenberg plädiert für eine Zusammenarbeit und rät dazu, die Kooperation gegen die Pandemie in den Vordergrund zu stellen.

Dass eine gemeinsame Pandemie-Bekämpfung erfolgreich sein kann, zeigt ein Beispiel aus den 1970ern, ebenfalls aus der Zeit des Kalten Krieges: das Pockenausrottungsprogramm der Weltgesundheitsorganisation (WHO). An diesem Programm beteiligten sich auch die "Systemgegner" USA und UdSSR, wobei die einen vornehmlich das Geld und die anderen die Produktionskapazitäten gaben. Die Pocken gelten seit 1979 als ausgerottet.

Kreml-Staatsfonds zahlt und vermarktet

Eine solche weltweite Zusammenarbeit gibt es derzeit auch. Sie heißt Covax, wird von der WHO organisiert, hat aber bislang weniger Wirkkraft als das Programm damals - was wohl auch daran liegt, dass sich Staaten, die es sich leisten können, schnell große Mengen an Impfstoff gesichert haben. Nicht umsonst wird Sputnik V nach Angaben des Russian Direct Investment Fonds (RDIF), der an der Finanzierung der Impfstoff-Entwicklung beteiligt und für die Vermarktung zuständig ist, insbesondere in Afrika, Lateinamerika und Asien eingesetzt.

"Russland verkauft an verzweifelte Menschen", sagte dazu der Medizinprofessor Lawrence Gostin von der Georgetown University dem Magazin Business Insider. Und: "Dies ist eine Art zu zeigen, dass Russlands technologische Fähigkeiten denen des Westens ebenbürtig sind."

Was hat Sputnik V mit Nord Stream 2 zu tun?

Doch was könnte, abgesehen vom Imagegewinn und dem Gewinn aus dem Verkauf des Impfstoffes, für Russland konkret politisch dabei herauskommen, etwa bei dem Gasleitungs-Großprojekt Nord Stream 2? "Eine konkrete politische Einflussnahme ist durch einen Import von Sputnik V oder den Erwerb einer Lizenz zur Produktion nicht zu befürchten", sagt Susanne Schattenberg. Nord Stream 2 sei vertraglich unter Dach und Fach, sollte die Bundesregierung Nord Stream 2 doch noch stoppen wollen, würde Sputnik V darauf kaum einen Einfluss haben.

Umgekehrt macht es die russische Politik der EU und Deutschland aktuell aber nicht leicht, sich für Sputnik V zu entscheiden. Gerade erst hat Bundeskanzlerin Angela Merkel wieder einmal den Umgang des Kreml mit dem Oppositionspolitiker Alexej Nawalny deutlich kritisiert, der in einem russischen Straflager sitzt und dessen Gesundheitszustand nach Angaben seiner Vertrauten kritisch ist. Die Bundesregierung mache sich "sehr große Sorgen" um Nawalny, sagte Merkel.

Verwendete Quellen:

  • Professor Malte Thießen, Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte
  • Professor Susanne Schattenberg, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen
  • Website der Europäischen Kommission und der Europäischen Arzneimittelagentur EMA
  • Impfdashboard des Bundesgesundheitsministeriums
  • Offizieller Sputnik-V-Twitteraccount
  • Financial Times: EU regulator to probe ethical standards of Sputnik vaccine trials
  • The Moscow Times: Slovakian Drug Institute Unable to Evaluate Sputnik V 'Due to Lack of Data'
  • Spiegel online: Zahlendreher, fehlende Daten, verschwundene Probanden
  • Business Insider: Russland hat Vereinbarungen über Impfstoff-Lieferungen in über 40 Länder getroffen
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