• Der Berliner Enno Lenze reist als Kriegsreporter regelmäßig nach Kurdistan.
  • Er spricht von seiner Recherche über angeblich verkaufte Bundeswehr-Gewehre.
  • Viele Journalisten schauten kaum noch richtig hin.

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Es ist nicht leicht, für Enno Lenze die passende Berufsbezeichnung zu finden. Unternehmer, Museumsdirektor, Consultant, Kriegsberichterstatter, Journalist, Politiker, Hacker, Aktivist, Konfliktforscher, Peacemaker - was stimmt denn nun? "An sich kommen alle in ihrer Art hin", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion.

"Mein Geld verdiene ich als Unternehmer. Als solcher berate ich andere Unternehmen, Organisationen sowie Einzelpersonen. Meist geht es dabei um Sicherheit im Ausland oder um Lobbyarbeit", sagt der 38-Jährige, der vor einigen Jahren nach Berlin kam und dort das Bunker Museum betreibt.

Normalerweise ist er Museumsdirektor in der Dokumentation "Hitler - wie konnte es geschehen" in Berlin. Das ist die nach seinen Angaben weltweit umfangreichste Dokumentation über den Terror der Nazis. "Diese habe ich mit geplant und mit aufgebaut und leite die Einrichtung", sagt Lenze.

Bis vor kurzem war er jedoch nicht in Berlin, sondern gut 4.000 Kilometer weiter südöstlich in Kurdistan. Dort half er im Bildungszentrum des Our Bridge e.V.. "Das wurde privat, aus eigener Initiative vom damals 21-jährigen Paruar Bako aufgebaut", schreibt Lenze, der von seinen Erlebnissen über die sozialen Netzwerke berichtet.

Das Projekt befindet sich am Lake Mossul und besteht aus einem Kindergarten und einer Schule. "Früher gehörte ein Waisenhaus dazu, aber alle Kinder konnten vermittelt werden. Hier werden täglich 400 oft jesidische Kinder des Khanke-Flüchtlingscamps (auch: Xanke, Khanky; Anm. d. Red.) unterrichtet.

"In dieser Gegend wohnen rund 100.000 Jesiden, die 2014 aus ihrer Heimat Shingal fliehen mussten, als der Islamische Staat kam und sie ausrotten wollte", erzählt Enno Lenze, der seit etwa zehn Jahren regelmäßig in die Region reist. Manchmal nimmt er sich vom Museum frei, um im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu helfen.

Durch sein Interesse an Konfliktforschung sei er irgendwie in die Kriegsberichterstattung hineingerutscht. "In den Kriegsgebieten merkt man, in welchem Luxus wir in Europa leben und dass man diesen Luxus schnell nicht mehr zu schätzen weiß." Beim Projekt Peacemaker fand er Gleichgesinnte, die teilweise in Europa und teilweise in den Kriegsgebieten der Welt unterwegs sind und versuchen, die Lage zu verbessern.

Vor Kurzem war er ein paar Tage in Xanke, dann verbrachte er einige Zeit in der kurdischen Hauptstadt Erbil. Dazwischen lagen zwei wichtige Daten: Der "Halabja Day" am 16. März, an dem an die Giftgas-Angriffe Saddams von 1988 erinnert wird, sowie der 22. März, an dem das kurdische Neujahr "Newroz" gefeiert wird. Zum Halabja Day war er nach Halabja eingeladen, um den Tag dort mit den Opfern und Hinterbliebenen des Angriffs zu verbringen.

Völlig falsche Vorstellungen von der Region

Seine Faszination für die Region beschreibt er so: "Irgendwie blieb ich an der Region hängen. Meine Vorstellung von der Gegend war völlig falsch, die Menschen hier waren herzlich und die Landschaft wunderschön. Und weit und breit kaum Touristen." Erst danach fing er an, sich für die Politik zu interessieren.

Am Ende des Osmanischen Reichs zogen die Briten dort Grenzen mit dem Lineal, ohne sich die Bevölkerung anzusehen. Das sorgt bis heute für Probleme. Die Autonome Region Kurdistan im Norden des Iraks hat eine eigene Regierung, ein eigenes Parlament, eigene Polizei und eine eigene Armee. Hier spricht man eine andere Sprache als im Rest-Irak und auch die Kultur ist anders. Zwischen beiden Gebieten gibt es sowas wie Grenzkontrollen und es gelten unterschiedliche Visa. Dennoch ist es formal ein Land.

Man sollte nun meinen, dass die Zentralregierung das Sagen hat und die Regionalregierung ihr untergeordnet ist. Aber das ist nicht der Fall. Es ist eher ein Verhandeln und Zerren um jede Entscheidung. So wird das Erdöl beider Teile eigentlich durch die Zentralregierung verkauft und das Geld anschließend verteilt. Als es Streit um die Höhe gab, begann Kurdistan, sein Öl selbst über den Ölhafen in der Türkei zu verkaufen - die Zentralregierung war machtlos. "Bei solche Geschichten habe ich mich gefragt: Wie geht das?"

Schlecht recherchierter Artikel spornte seinen Ehrgeiz an

Vor einigen Wochen war er in der Region, traf Entscheidungsträger und Militärs für Interviews und schrieb einen Artikel darüber, dass die kurdischen Peschmerga – anders als vielfach berichtet - keine Waffen der Bundeswehr verkauft haben.

"Ich hatte einen Artikel gelesen, der einfach nicht schlüssig war", beschreibt er seine Motivation. "Das macht mich wahnsinnig und passiert immer öfter. Meist, weil Journalisten in Deutschland einfach keine Fakten mehr prüfen", ärgert er sich. Vielfach schrieben Journalisten voneinander ab, ohne Fakten zu prüfen.

Die Geschichte, die er las, ging sinngemäß so: Als Kurdistan vom IS angegriffen wurde und keine modernen Waffen hatte, bettelte es die Welt an. Deutschland lieferte Waffen, welche die Kurden direkt wieder verkauften. "Das ergibt keinen Sinn", sagt Lenze, "weil sie dann ja keine Waffen mehr gehabt hätten." Außerdem seien ihnen die Folgen, also keine Waffen mehr zu erhalten, klar. Bis dahin hatte ihnen nur die türkische Armee Waffen und Munition geliefert.

In Deutschland war es ein größeres Thema, die US-Kollegen legten die Geschichte mit dem Kommentar "Nur eine Quelle, keine Belege" sofort wieder zur Seite. Also sah sich Enno Lenze die Berichte an und meldete sich bei deutschen Kollegen. Am Ende habe einer vom anderen abgeschrieben, aber niemand hatte selber recherchiert. Es habe immer nur geheißen: In den Zeitungen A, B und C stand es ebenfalls so. Und dort wiederum verwies man auf andere Berichte und so weiter. Zusätzlich wurde der Gouverneur von Kirkuk im Artikel zitiert und dabei sein Name falsch geschrieben.

Am Ende der Kette standen die NDR-Recherchen. Doch dort sieht man keinen Peschmerga, der eine Waffe verkauft. Man sieht auch nicht, ob eine der Waffen aus der Lieferung der Bundeswehr ist oder nicht. "Alles sehr dünn", findet Lenze. Der NDR wollte mit ihm auch nicht über die Recherchen sprechen. "Man wollte sich melden, tat es aber nie. Also habe ich die ganze Sache über fünf Jahre recherchiert."

Am Ende sei laut seiner Recherche eine einzige Pistole aus der Bundeswehr-Lieferung bei der Auslieferung an einen Frontabschnitt verloren gegangen. Sie wurde von einem Syrer, auf der Flucht nach Kurdistan-Irak, gefunden und an einen lizenzierten Waffenhändler verkauft. Der Händler hat alle Daten korrekt erfasst, wusste aber nicht, dass es eine Waffe aus der Lieferung war und konnte es auch nicht prüfen.

Die Waffe fiel bei einer Kontrolle der Behörden auf, wurde beschlagnahmt und zurück an die Peschmerga gegeben. "Also wurde nie eine Waffe aus der Lieferung verkauft und keiner der Beteiligten war ein Peschmerga." Alle anderen Waffen im Video, so recherchierte es Lenze, waren nicht aus dieser Lieferung. "Es gibt etliche andere Wege, auf denen deutsche Waffen um die Welt wandern."

Ernüchternde Resonanz aus Deutschland

Die Resonanz aus Deutschland war jedoch ernüchternd. "Journalisten, welche darüber geschrieben haben, sagten mir: Die Artikel seien so alt, da sei es jetzt egal, ob der Inhalt stimme oder nicht", berichtet Lenze. "Andere sagten, dass ich aber auch keinen Beweis habe, dass die Waffen nicht aus der Bundeswehr-Lieferung stammten."

"Die US-Kollegen haben mich ausgelacht und mich gefragt, warum ich eine so offensichtlich falsche Geschichte recherchiere, um dann zum Ergebnis zu kommen, dass die falsch ist. Meine Leser waren der Meinung, dass das schon lange danach aussah und wenig überraschend sei. Einer der typischen Fälle von viel Arbeit und wenig Ruhm", dachte er noch.

Doch dann wurde er zur wichtigsten Nachrichtenagentur Kurdistans, Rudaw, eingeladen. Diese machte eine zwölfminütige Sondersendung darüber und war ebenfalls überrascht, dass das Thema in Deutschland so aufgeplustert worden war.

Kaum Journalisten vor Ort - das war seine Chance

Einen klassischen Weg, um Kriegsberichterstatter zu werden, gibt es in seinen Augen nicht. "Ich habe hier oft mit Kollegen gesprochen und zwei häufige Wege gesehen: Häufig sind es Journalisten, welche über Konflikte, Politik oder ähnliches berichten und dann vom Arbeitgeber gefragt werden, ob sie über einen Krieg in ihrem Spezialgebiet berichten können." Auf der anderen Seite sind es Menschen, die sich für eine Region interessieren und dann in den Krieg reingezogen werden. "So war es bei mir."

"Ich war vor zehn Jahren als Tourist hier, vor acht Jahren habe ich die syrischen Flüchtlingscamps besucht." Kurdistan-Irak hat fünf Millionen Einwohner und nahm in den vergangenen acht Jahren eine Million Flüchtlinge aus Syrien und eine Million Vertriebene aus dem Irak auf. Das fand er interessant.

Zehn Tage, nachdem der IS Mossul überfallen hatte, war er in Kurdistan und in einem Vorort Mossuls, dann in den Kasernen der Peschmerga und traf ranghohe Politiker. In dem Moment gab es kaum Journalisten an der Front und so wurde er vom lokalen Fernsehen interviewt, was wiederum dafür sorgte, dass ihn mehr Leute treffen wollten. "So fing ich irgendwie an, kam seitdem mehrmals im Jahr wieder, baute meine Kontakte aus und berichtete weiter."

Während dieser Zeit half er gegen den IS. So entstand der Titel seines Buches, in dem er über seine Einsätze berichtet: "Fronturlaub: Wie ich in meiner Freizeit in Kurdistan den Kampf gegen den IS unterstütze, statt unter Palmen zu liegen."

Am Pool liegen und Bier trinken ist nichts für ihn

Der Titel geht auf ein Zitat des damaligen kurdischen Präsidenten zurück, der sagte, dass alle gegen den IS helfen. Vom Klempner, der die Wasserleitung in der Kaserne anschließt, über die Journalisten, die berichten, bis hin zu den Soldaten an der Front.

Als der Sprecher der irakischen Armee den Sieg über den IS verkündete, hörte man im Hintergrund Schüsse. Die Amerikaner nannten es spöttisch "der Klang von Befreiung".

"Bis heute ist der IS aktiv, vor ein paar Wochen konnte ich in Makhmour mit dem Nachtsichtgerät IS-Kämpfer in ihren Höhlen sehen. Eine Woche später gab es dort einen US-Luftschlag. Also dürften es nun wieder weniger sein." Vor allem sei die Bevölkerung, die auf Seiten des IS war, ruhiger geworden. Er vergleicht die Situation mit dem Deutschland der späten 1940er Jahre. Damals habe es immer geheißen: "Nein, hier gab es keine Nazis." Die seien im nächsten Dorf.

Sicher gebe es friedlicherer Orte, seinen Urlaub zu verbringen. Aber er stelle sich immer die Frage, was man mit seinem Leben anfangen wolle. "Ich habe nie verstanden, warum man sich betrinken oder am Pool liegen sollte. Ich finde das einfach langweilig und verschwendete Zeit."

Hier könne er etwas Sinnvolles machen und zugleich im Bildungszentrum sehen, wie sich die Kinder freuen. "Ich bekomme das Feedback zu meinen Artikeln, in dem sich Leute bedanken, dass ich ihnen etwas Neues gezeigt habe. Das ist einfach erfüllender."

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