Das Bundesverfassungsgericht hat kurz hintereinander zu Jan Böhmermanns und Renate Künasts Fällen entschieden. In der wichtigen rechtlichen und gesellschaftlichen Debatte um die Grenzen der Meinungsfreiheit schweigt es jedoch in der Sache. Kneift hier das Gericht?

Rolf Schwartmann
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht des Autors dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.

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Das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich entschieden, dass die Verfassungsbeschwerde gegen ein Verbot von Teilen des Gedichts "Schmähkritik" von Jan Böhmermann nicht zur Entscheidung angenommen wird, "weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat".

Das kann man kritisieren, wenn man sich daran stört, dass das Bundesverfassungsgericht sich nicht im Rahmen einer der Öffentlichkeit bekannten Begründung damit befasst hat, wie Böhmermanns Taschenspielertrick mit der Kunstfreiheit in Karlsruhe gesehen wird.

Was muss ein Gericht entscheiden?

Diese Entscheidung kann man sich wünschen. Dafür gibt es Gründe, denn die Entscheidung berücksichtigt die Mechanismen des Internets nicht, die von Hass geprägte Meinungen schnell und weit vernichtend verbreitbar machen. Rechtlich möglich war sie, der mit der Entscheidung befassten Kammerbesetzung aber nicht.

Hat die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil aus Hamburg keine Aussicht auf Erfolg, dann – so muss man schließen - haben die damit betrauten Verfassungsrichter eine Prüfung der Äußerungsverbote für Böhmermann vorgenommen und halten sie jedenfalls im Ergebnis für verfassungskonform.

Weiterhin erlaubt: "sackdoof"

Interessant ist aber auch, was Böhmermann weiterhin über Erdogan behaupten darf. Etwa er sei "sackdoof, feige und verklemmt". Zulässig bleibt auch: "Er ist der Mann, der Mädchen schlägt und dabei Gummimasken trägt". Das Hamburger Gericht lässt die Äußerung zum Mädchen schlagen zu, weil es an die Niederschlagung von Demonstrationen in der Türkei erinnert, bei der die Polizei mit Gesichtsschutz auftrat. Sie hat also Sachbezug und darauf kommt es an.

Überträgt man diesen Gedanken auf den Polizeialltag, dann hat jedes Anpöbeln eines Polizisten immer Sachbezug, weil es an ein polizeiliches Verhalten anknüpft und es kaum Fälle ohne Vorgeschichte und damit ohne Sachbezug geben wird.

Fehlende Prüfung im Fall Renate Künast

Dieser Maßstab ist ein Problem im Fall Renate Künast. Sie musste als Politikerin übelste Beschimpfungen über sich ergehen lassen. Hier hat das Bundesverfassungsgericht dem Berliner Kammergericht kürzlich aufgegeben, eine bislang unterlassene Abwägungsentscheidung nachzuholen.

Dort hatte man die streitgegenständlichen Beschimpfungen nicht als Schmähkritik eingeordnet und die Äußerungen unter Berufung auf die Karlsruher Rechtsprechung ohne Abwägung unbeanstandet gelassen. Nun muss das Gericht in Berlin abwägen, ob die Aussagen unzulässig sind, obwohl sie keine sogenannte Schmähung darstellen.

Für Karlsruhe gilt: "Eine Schmähung im verfassungsrechtlichen Sinn ist gegeben, wenn eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht." Konkretisierend hatte das Bundesverfassungsgericht zuvor entschieden, dass eine Schmähung vorliegt, wenn es "nicht mehr um die Auseinandersetzung in der Sache (geht), sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht".

Neuer Akzent beim Sachbezug

An der Berliner Entscheidung wurde bemängelt, dass man sich mit dem Kriterium des Sachbezuges nicht befasst habe und auch keine (neuen) Maßstäbe dazu gebildet wurden. Dazu, wie das aussehen könnte, schweigt das Monitum zu Recht, wenn man nicht von der Linie des Gerichts abweichen will.

In Berlin wird das Gericht nun erwägen können, bei der Abwägung modifizierend darauf abzustellen, dass der diffamierende Charakter einer Äußerung nicht im Vordergrund stehen muss, sondern dass er diese nicht nur unwesentlich prägen muss.

Diese Formel könnte als Maßstab taugen, denn sie würde den Schutz des Persönlichkeitsrechts deutlich erhöhen. Sie wäre aber immer noch eng an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geführt und könnte die Schranke der Meinungsfreiheit gezielt erweitern.

Korrekturbedarf in Karlsruhe?

Mit der Frage des Sachbezugs wird Karlsruhe selbst sich erst auseinandersetzen können, wenn man dort zur Überzeugung gelangt, dass von einer Entscheidung des gesamten Senats aus dem Jahr 1995 ("Soldaten sind Mörder") abgewichen werden muss, um die Verfassung einzuhalten.

Dafür gibt es Gründe, denn in der Wirklichkeit von 2022 treten eklatante Schutzlücken zulasten des Persönlichkeitsrechts zutage. Schließlich lässt sich für alles, was im Leben geschieht, irgendwie ein sachbezogener Anlass finden.

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