Auch in Deutschland werden Menschen zu Unrecht verurteilt. Anders als in den USA sind spektakuläre Justizirrtümer mit millionenschweren Entschädigungszahlungen aber selten. Renate Volbert, Professorin für Rechtspsychologie, erklärt die Situation in Deutschland, welche Rechtsirrtümer häufig sind und was Betroffene tun können.

Mehr Panorama-News

Er saß offenbar zu Unrecht hinter Gittern: Der Schauspieler Günther Kaufmann gestand eine Tat, die er wohl gar nicht begangen hatte. Im Februar 2001 war sein Steuerberater Hartmut Hagen bei einem Überfall getötet worden. Zuvor hatte Kaufmanns Frau den Steuerberater um 830.000 Mark betrogen – Geld, das das Ehepaar wohl für die Behandlung der schwer erkrankten Frau benötigte. Kaufmann wurde daraufhin wegen versuchter räuberischer Erpressung mit Todesfolge verurteilt.

Mit dem falschen Geständnis wollte er laut späterer Aussage seine todkranke Frau schützen, die nur wenig später an Krebs sterben sollte. Zwischen November 2002 und Januar 2005 saß er im Gefängnis. Bei der Wiederaufnahme seines Verfahrens war er auf sich allein gestellt. Während in den USA, die für aufsehenerregende Fälle mit Millionen-Entschädigungen bekannt sind, verschiedene Anlaufstellen gibt, etwa das Innocence Project oder das National Registry of Exonerations, fehlten solche Initiativen in Deutschland bislang.

Mit dem Projekt "Fehlurteil und Wiederaufnahme" gibt es nun aber einen Verein, an den sich möglicherweise zu Unrecht verurteilte Menschen wenden können. Neben der Unterstützung bei der Überprüfung und etwaigen Anfechtung ihrer Verurteilung versucht das Projekt auch präventiv zu wirken: "Wir kooperieren mit Law Clinics an Universitäten, auch um Studierende praxisnah auszubilden und sie für Fehlerquellen im Strafverfahren zu sensibilisieren", erklärt Laura Farina Diederichs, Vorstandsmitglied des Projekts, im Gespräch mit unserer Redaktion. Außerdem biete man Fortbildungen für Verteidiger an.

Expertin beschreibt hohe Hürden für Wiederaufnahmeverfahren

Ein erfolgreiches Wiederaufnahmeverfahren bedarf einer ausführlichen Vorbereitung: "Oft werden neue Beweismittel oder Erkenntnisse benötigt, die – wenn überhaupt – nur durch aufwändige und kostspielige Ermittlungen beschafft werden können," erklärt Diederichs weiter. Kompetente Verteidiger seien darüber hinaus teuer, sodass sich viele Betroffenen eine Wiederaufnahme gar nicht leisten könnten.

Günther Kaufmann konnte die finanzielle Belastung offenbar stemmen. Er hatte nach Rücknahme seines Geständnisses seine drei namhaften Anwälte durch zwei neue Anwälte aus Berlin ersetzt. Doch nicht jeder zu Unrecht Verurteilte kann sich die teils horrenden Anwaltskosten einfach so leisten. "Es gibt zwar mal einen Gutachter oder einen Anwalt, der pro bono arbeitet, aber in der Regel entstehen Kosten, die für viele Menschen nicht zu tragen sind", erklärt Renate Volbert, Professorin für Rechtspsychologie an der Psychologischen Hochschule Berlin, unserer Redaktion.

Eine belastbare Zahl, wie viele Menschen in Deutschland von Fehlurteilen betroffen sind, gibt es laut Volbert aber nicht. Das bestätigt auch Diederichs. Eine systematische Erfassung und Auswertung von Wiederaufnahmeverfahren und deren Ergebnissen fehle: "Trotz einiger statistischer Erhebungen ist die tatsächliche Prävalenz von Fehlurteilen aktuell unklar."

Expertin erklärt: Das sind häufige Fehlerquellen von Verfahren in Deutschland

Zu jenen Erhebungen zählt eine Studie, die Renate Volbert mit einigen Kollegen im Jahr 2023 publiziert hat. Diese fand in 203 von 512 untersuchten Wiederaufnahmeanträgen zwischen 2013 und 2015 eine erfolgreiche Wiederaufnahme. In Deutschland geht es bei Wiederaufnahmeverfahren aufgrund der hiesigen Gesetzgebung nicht nur um Fälle, in denen Verurteilte eine Tat gar nicht begangen haben: "Es gibt auch falsche Verurteilungen, weil ein milderes Gesetz hätte angewendet werden müssen. Insbesondere die Frage nach der Schuldfähigkeit spielt immer wieder eine Rolle", erklärt Volbert. In solchen Fällen habe die verurteilte Person die Tat zwar begangen, es sei aber im Verfahren ihre psychische Krankheit übersehen worden.

Als hauptsächliche Fehlerquellen identifizierten die Forscher falsche Aussagen und Verwechslungen von Personen, unerkannte Schuldunfähigkeit und fehlerhafte Rechtsfolgen wie etwa eine falsche Gesamtstrafenbildung. Schwerwiegende Delikte stellten dabei eher die Ausnahme dar. Besondere Probleme zeigten sich sogar in Strafbefehlsverfahren, in denen Fälle leichter Kriminalität erledigt werden. Laut der Publikation traten hier aufgrund von oberflächlicher Ermittlung oder nur flüchtiger Prüfung der Sachlage Fehler auf. Strafbefehlsverfahren bei kleineren Delikten identifiziert auch Laura Farina Diederichs als häufige Fehlerquellen.

Expertin erzählt: "Es gab sogar schon Fälle, in denen die falsche Zwillingsperson verurteilt wurde"

Eine für Außenstehende besonders skurrile Fehlerquelle besteht in der Verurteilung von Personen aufgrund falscher oder fehlender Identifizierung: "Es gab sogar Fälle, in denen die falsche Zwillingsperson verurteilt wurde. Aber auch falsche Papiere sorgen für Fehler", sagt Volbert. Außerdem gab es Fälle von Fahren ohne Führerschein, Fahrzeugversicherung oder Fahrschein, bei denen dann im Nachhinein doch das entsprechende Dokument vorgelegt wurde. "In den USA haben sich auch fehlerhafte oder irreführende kriminaltechnische Ergebnisse als wichtige Fehlerquelle herausgestellt."

Spuren, die zunächst aufgrund fehlender Technik noch nicht analysiert werden konnten, wurden für spätere Untersuchungen aufbewahrt. Mit der Einführung der DNA-Analyse in den 80er-Jahren gelang es dann, Unschuldige zu entlasten: "Auf diese Weise konnten zahlreiche Verurteilte ihre Unschuld nachweisen und es kam zu erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren. In vielen Fällen konnten auf diese Weise auch die wahren Täter ermittelt werden," erzählt die Professorin. In Deutschland wurde dabei der Fall Holger Hellblau berühmt, der den Liebhaber seiner Frau im Schlaf erstochen haben soll, nach neuen Erkenntnissen und einer DNA-Analyse aber nach vier Jahren Haft wieder freikam.

Zu Unrecht im Gefängnis: Was macht das mit der Psyche?

Während die eher kleineren Delikte und Fehlerquellen weniger Aufmerksamkeit erhalten, kann dennoch jeder Fall belastend für den Betroffenen sein. "Es gibt kaum systematische Untersuchungen, aber es ist leicht vorstellbar, dass eine Verurteilung immer eine psychische Belastung mit sich bringt", sagt Volbert. Ein zu Unrecht ausgesprochener Freiheitsentzug sei für Betroffene häufig verheerend. "Eine solche Situation bedeutet Gefühle ausgeprägter Hilflosigkeit. Man muss einerseits versuchen zurechtzukommen und will andererseits seine Situation auch nicht akzeptieren", skizziert die Forscherin das Dilemma.

Als unschuldige Person sei man auch bei einem nachträglichen Freispruch zuweilen der psychisch belastenden Situation ausgesetzt, dass einem nicht geglaubt wird. "Jeder kann sagen, er sei unschuldig, und tatsächlich behaupten das auch viele Schuldige. Bei einem rechtskräftigen Urteil gehen Menschen davon aus, dass dieses zurecht ausgesprochen worden ist", gibt die Expertin zu bedenken. Selbst bei erfolgreicher Wiederaufnahme und einem Freispruch bleibe oft etwas haften. Untersuchungen zeigten, dass vor allem Verurteilten mit falschem Geständnis nach erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren häufiger kein Glaube geschenkt werde, so Volbert.

Erfolgreiche Wiederaufnahme im Fall Kaufmann: Zwischen Unschuld und Zweifeln

Das gilt auch für den Fall von Günther Kaufmann, bei dem jedoch einige Unklarheiten den Freispruch trüben. So hatte Kaufmann sein falsches Geständnis auch nach dem Tod seiner Frau zunächst noch mehrfach gegenüber seinen drei Rechtsanwälten wiederholt: "Das Gericht geht davon aus, dass er den Anwälten die ungeschminkte Wahrheit gesagt hat", zitiert die dpa den vorsitzenden Richter Wolfgang Rothermel vom Landgericht Augsburg.

Dennoch reichten die Indizien nicht für eine Verurteilung. Zwar waren Kaufmanns Fingerabdrücke am Tatort im Haus des Steuerberaters gefunden worden, doch der Beweisaufnahme zufolge soll Kaufmanns Ehefrau drei Männer aus Berlin zu der Tat angestiftet haben – ohne Kaufmanns Wissen. Das Gericht erklärte, die Fingerabdrücke Kaufmanns könnten auch von früheren Aufenthalten des Schauspielers im Wohnhaus seines Steuerberaters stammen. Der Wiederaufnahme haften also weiterhin Zweifel an.

Expertin Volbert kritisiert: Nach erfolgreicher Wiederaufnahme stehen Menschen allein da

Wenn Menschen eine erfolgreiche Wiederaufnahme hinter sich gebracht haben, stehen sie allerdings oft allein da. So kritisiert Volbert: "Bei Menschen, die zurecht verurteilt wurden, haben wir Rehabilitations- und Reintegrationsmaßnahmen zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Doch für Menschen, die zu Unrecht verurteilt wurden, ist kein vergleichbares Angebot vorhanden." Auch deshalb ist es das Ziel des Projekts Fehlurteil und Wiederaufnahme, notwendige Veränderungen oder Reformen anzustoßen, erklärt Laura Farina Diederichs.

Ein Teil einer solchen Reform könnte sich um Erleichterungen des Nachweises einer Fehlverurteilung drehen: Auf der Basis einer Expertenbefragung zu Wiederaufnahmeverfahren von Renate Volbert und Kollegen lässt sich hier beispielsweise die audiovisuelle Protokollierung von Verfahren nennen. Bei Wiederaufnahme würden solche Audio- und Videodokumente das Vorgehen wesentlich erleichtern.

Millionenentschädigung in den USA: Wie viel Geld erhalten Menschen in Deutschland?

Am Ende eines erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens stehen in den USA oft aufsehenerregende Entschädigungssummen in Millionenhöhe. Das ist in Deutschland anders. Bei Fällen mit falschen Geständnissen kam es – wie im Fall von Günther Kaufmann – schon zur Verweigerung einer Entschädigungszahlung. "Hier wird die Zahlung teilweise verwehrt, weil man aus eigenem Verschulden verurteilt worden sei, so die Argumentation", erklärt Volbert.

Die Entschädigungspauschalen für zu Unrecht verbüßte Haft sind derzeit auch ein politisches Thema. Justizminister Marco Buschmann will die Pauschalen von 75 Euro auf 100 Euro pro Tag erhöhen. Ab einer Haftdauer von sechs Monaten ist laut einem Entwurf des Bundesjustizministeriums, der "Legal Tribune Online" vorliegt, ein Betrag von 200 Euro pro Tag vorgesehen. So begrüßenswert eine Erhöhung auch sein mag, Renate Volbert gibt zu bedenken: "Die psychische Schädigung durch einen zu Unrecht verbüßten Haftaufenthalt wird durch die Entschädigung nicht gutgemacht."

Über die Gesprächspartner

  • Renate Volbert ist Professorin für Rechtspsychologie mit Schwerpunkt Aussagepsychologie an der Psychologischen Hochschule Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich der Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen, der Befragung bei Verdacht auf Missbrauch und Misshandlung sowie der falschen Geständnisse. Zuletzt erschien im Verlag Nomos der Sammelband "Fehler und Wiederaufnahme im Strafverfahren. Eine bundesweite empirische Studie anhand von Strafakten" im Open Access.
  • Laura Farina Diederichs ist Vorstandsmitglied des Projekts Fehlurteil und Wiederaufnahme e.V.

Über das Projekt

  • Fehlurteil und Wiederaufnahme e.V. bietet Menschen, die meinen, zu Unrecht verurteilt worden zu sein, die Möglichkeit, gegen ihre Verurteilung vorzugehen. Für Menschen mit begrenzten finanziellen Mitteln stellt die Wiederaufnahme häufig eine unüberwindbare Hürde dar. Diesem Missstand tritt das Projekt entgegen. Außerdem richtet sich die Initiative an Universitäten, um Studierende für die vielfältigen Fehlerquellen im Strafverfahren zu sensibilisieren, und engagiert sich für die kontinuierliche Weiterbildung von Verteidigern.

Verwendete Quellen

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.