Selten hat ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts für so viel Gegenwind gesorgt: Im August 1995 erklärten die Karlsruher Richter die Pflicht zum Kreuz in bayerischen Klassenzimmern für verfassungswidrig und lösten damit eine Welle der Entrüstung aus. Heute hängt das Kruzifix weiterhin in vielen Klassenzimmern. Wieso? Wir haben mit Islamwissenschaftlern, Theologen und Bildungsexperten über den Kulturkampf in Schulen gesprochen.

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Vor 25 Jahren wähnte sich die christliche Welt dem Untergang nahe – zumindest die in Bayern. Denn was am 10. August 1995 als heute sogenannter "Kruzifix-Beschluss" vom Bundesverfassungsgericht veröffentlicht wurde, drohte in den Augen vieler Bayern, das Land aus den Klassenräumen heraus grundlegend zu verändern: Die bis dato im Rahmen der Bayerischen Volksschulordnung geltende staatliche Vorschrift, in Schulen ein Wandkreuz aufzuhängen, wurde als verfassungswidrig eingestuft.

Lautstarke Proteste von Kirchen und Politik folgten: Mehr als 30.000 Menschen gingen in München auf die Straße, eine Petition sammelte sieben Millionen Unterschriften. "Kreuze gehören zu Bayern wie Berge", rief der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) auf dem Odeonsplatz aus. Andere bemühten Vergleiche zur Nazi-Zeit: Anfang der 1940er Jahre mussten Kreuze in Schulen abgehängt werden.

Die Apokalypse blieb aus

Angestoßen worden war der Karlsruher Beschluss durch die Beschwerde dreier anthroposophischer Schüler und ihrer Eltern, die ihre Religions- und Glaubensfreiheit durch die Kruzifixe im Klassenzimmer verletzt sahen und an die Neutralitätspflicht des Staates appellierten.

Die Karlsruher Richter gaben ihnen Recht und werteten das Kruzifix als Symbol einer bestimmten Religion, also nicht als kulturelles oder überreligiöses Zeichen für Humanität. Folglich dürften Schüler im Klassenraum – einem staatlich geschaffenen Pflichtraum – nicht dem Einfluss eines bestimmten Glaubens ausgesetzt sein, so das Argument der Richter.

Heute, 25 Jahre später: Der Paragraph 13, der lautete: "In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen. Lehrer und Schüler sind verpflichtet, die religiösen Empfindungen aller zu achten", ist zwar aus der Schulordnung gestrichen, zur gefürchteten antichristlichen Kultur- oder Glaubenskampf ist es aber nicht gekommen. All die Aufregung also um nichts?

Diskussionen im und ums Klassenzimmer

Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), erinnert sich noch gut daran, wie der Kruzifix-Beschluss für Diskussionen im Klassenzimmer sorgte – aber auch die interkulturelle Begegnung befruchtete. "Themen aus der Gesellschaft im Unterricht zu diskutieren, ist ein Kernbildungsauftrag", erinnert sie.

Man dürfe in Klassenzimmern nicht vor schwierigen Debatten zurückschrecken. "Wir können Kinder zu Demokraten bilden, die offen und multikulturell aufgeschlossen sind", sagt sie und erzählt aus der Praxis, wie die Schüler gefragt hätten: "Warum sollen wir das Kreuz abhängen?"

So sei ein Austausch darüber zustande gekommen, wen das Kreuz auf- oder anrege. "Manche Kinder erzählten: 'Ich habe schon andere Kreuze gesehen' oder 'Meine Eltern sagen aber, dass das Kreuz nur für eine Religion steht und nicht für alle'", erinnert sich Fleischmann. Rückblickend sagt die ehemalige Schulleiterin und Lehrerin: "Wir haben in der Diskussion um das Symbol viel mehr gewonnen, als wenn wir in der Schule einfach gesagt hätten: 'Wir hängen es ab oder auf'."

Grundsatzdebatte über Verhältnis von Staat und Religion

"Ein Zeichen ist nie einfach nur ein Zeichen, sondern hängt immer von dem Kontext ab", erinnert auch Theologe Jan Hermelink von der Universität Göttingen. Es bestehe aus seiner Form und daraus, wie es aufgefasst werde. "Das Kreuz kann als religiöses, kulturelles und politisches Zeichen gelesen werden", erklärt er.

Im Klassenzimmer spiele es auch eine Rolle, wo das Kreuz aufgehängt werde: "Wenn es direkt über der Tafel hängt, wo vielleicht auch Klassenregeln und in Frankreich der Staatspräsident hängt, hat das angesichts des oft üblichen Frontalunterrichts eine deutlichere Wirkung, als eine Positionierung an anderer Stelle", so Hermelink. Hinter der Kruzifix-Diskussion stehe eine Grundsatzdebatte: "Es geht eigentlich darum, was es heißt, dass der Staat religiös neutral ist und auf welche Weise der Staat in die Religionsfreiheit eingreift." Drängt er etwa alles an Religion zurück, oder fördert er alle Religionen gleichermaßen?

Noch immer Kreuze in bayerischen Klassenzimmern

"Es war deshalb eine geschickte Entscheidung, keine bundeseinheitliche Regel zu schaffen, sondern die Entscheidung den Ländern zu überlassen", merkt auch Hermelink an. Das habe jedoch zur Folge gehabt, dass sich die Situation in den Bundesländern bis heute immer weiter auseinander entwickelt habe, analysiert der Experte. Das Kreuz im Klassenzimmer sei in Mecklenburg-Vorpommern deutlich unüblicher als in Bayern.

Nach dem Willen der bayerischen Regierung soll das Kreuz im Klassenzimmer weiterhin der Regelfall sein. Schon kurz nach dem "Kruzifix-Beschluss", im Dezember 1995, stellte die Regierung das sicher, indem sie einen neuen Absatz in das Bayerische Erziehungs- und Unterrichtsgesetz einfügte.

Er lautete: "Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht." Dass in vielen bayerischen Schulen noch immer Kreuze hängen, ist also verfassungskonform.

Im Jahr 2011 stellte auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) klar, dass Kruzifixe in Schulen keine Grundrechte verletzen, weil sich ihr Einfluss auf Schüler nicht beweisen lasse. Der EGMR empfahl, Entscheidungen des Staates auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts zu respektieren.

Wenige Ausnahmefälle

Eine Konfliktregelung ist ebenfalls Teil des bayerischen Gesetzes: Wer nicht unter dem Kreuz lehren oder lernen will, wird zum "atypischen Ausnahmefall".

Bislang ist das Kruzifix nur auf einzelne Klagen hin abgehängt worden, so zum Beispiel im Fall des Lehrers Konrad Riggenmann im Jahr 2002. Auch in Regensburg verschwand im Jahr 2010 das Kruzifix aus dem Unterrichtsraum einer siebten Klasse. All das aber sind Ausnahmefälle, die nur für kurze Zeit zum Politikum werden.

Islamwissenschaftler Jörn Thielmann vom Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE) sieht durch die hängenden Kreuze die passive Religionsfreiheit zwar immer noch berührt, beobachtet aber: "In der Praxis scheint es – wohl aus verschiedenen Gründen – kein wirkliches Problem für Muslime und andere Religionsgruppen zu sein." Die Möglichkeit für Eltern sowie religionsmündige Schüler, die Entfernung der Kreuze zu erbitten, werde wenig zur Kenntnis genommen.

Theologe Hermelink sagt dennoch: "Religion ist im öffentlichen Leben viel sichtbarer geworden und die Debatten sind darum stärker geworden." Im Zentrum stehe dabei, wie verschiedene religiöse Praktiken und Überzeugungen an Schulen und Universitäten miteinander friedlich auskommen könnten – also etwa in Bezug auf Schulgottesdienste, religiöse Gebetspflichten oder weitere religiöse Symbole wie das Kopftuch.

"Kreuz-Erlass" im Jahr 2018

Dass die Debatte um das Verhältnis von Staat und Religion noch einmal einen neuen Anstoß bekommen hat, liegt nicht zuletzt am "Kreuz-Erlass" aus dem Jahr 2018, mit dem Ministerpräsident Markus Söder (CSU) Kreuze in Landesbehörden zur Pflicht erhob.

Rechts- und Islamwissenschaftler Mathias Rohe sagt dazu: "Mir erscheint die gegenwärtige Lage fragwürdig, wenn das Kreuz politisch als Zeichen kultureller Selbstbehauptung benutzt und damit seines Sinnes entkleidet wird. Hier zeigt sich ein weltweiter Trend, kulturelle Verunsicherung durch demonstrative, aber inhaltsarme Gesten zu überspielen."

Klassenzimmer sind pluraler geworden

Ähnliches beobachtet die Theologin Elisabeth Naurath: "Wir haben in Bayern seitdem eine besonders aufgeladene Situation, die eher zu Unruhe und Gegeneinander geführt hat." Das widerspreche jedoch im Grunde der theologischen Bedeutung des Kreuzes, das gerade kein Symbol von Macht und Rechthaberei, sondern vielmehr von Ohnmacht und Friedfertigkeit sei.

Eine Auseinandersetzung damit sei, unabhängig von aufgehängten Kruzifixen, notwendiger Teil religiöser Bildung im Kontext von Schule. "Schulen sollten in Sachen Anerkennung und Respekt von Andersartigkeit im demokratischen Rahmen ein Vorbild sein", findet Fleischmann.

"Im heutigen Schulalltag haben wir mit Blick auf religiöse und weltanschauliche Einstellungen und Lebensformen eine überaus plurale Situation", vergleicht Theologin Naurath damals und heute. Die Zahl derer, die nicht christlich getauft und sozialisiert sind, wachse beständig.

Sie sagt daher: "Es dürfte sich eher eine Minderheit von Lehrkräften und Schülern mit dem Kreuz im Klassenzimmer identifizieren. Da das Kreuz kein kulturelles, sondern ein religiöses Symbol ist, widerspricht es als 'Blickfang' beziehungsweise als 'Vor-Zeichen für alle' in einer gemeinsamen, der Religionsfreiheit aller verpflichteten Schule im Grunde dem Neutralitätsgebot."

Kopftuch-Urteile angestoßen

Trotz allem: Die Kreuze hängen weiter. Gleichzeitig hat der Kruzifix-Beschluss Folge-Urteile angestoßen, beispielsweise das Kopftuch-Urteil aus dem Jahr 2003. Auch hier unterscheiden sich die Regelungen von Bundesland zu Bundesland.

Ein pauschales Verbot religiöser Bekundungen in öffentlichen Schulen durch das äußere Erscheinungsbild von Lehrkräften ist laut Verfassungsgericht zwar nicht mit der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit vereinbar. Das Schulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen lässt die Rechtfertigung eines Verbotes aber beispielsweise zu, wenn eine hinreichend konkrete Gefahr der Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität besteht. Auslegungssache der Schulen also.

Auch im bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz ist kein ausdrückliches Kopftuchverbot formuliert. Religiöse Symbole sind jedoch dann verboten, wenn sie bei Schülern oder Eltern als Ausdruck einer Haltung verstanden werden können, die mit den verfassungsrechtlichen Grundwerten und Bildungszielen einschließlich der christlich-abendländlichen Bildungs- und Kulturwerte nicht vereinbar ist.

Messen mit zweierlei Maß?

Kruzifixe in Klassenzimmern ja, Lehrerinnen mit Kopftuch nein – wird hier mit zweierlei Maß gemessen? "Ja", findet Experte Thielmann. "Es gibt – bei allem Respekt für gewachsene Traditionen in unserem Land – sicherlich zweierlei Maß bei der Behandlung von Religionen in Deutschland, vor allem mit Blick auf den Islam." Die Begründung eines Kopftuchverbots mit der staatlichen Neutralitätspflicht hält er für problematisch. Solche Gründe "zielen auf eine spezifische Religion und orientieren sich an Äußerlichkeiten", begründet der Islam-Experte und ergänzt: "Die Schulgesetze und Aufsichtsregeln reichen meines Erachtens nach völlig aus, um problematische Lehrkräfte zu erkennen. Das betrifft wahrscheinlich erheblich mehr rechtsextreme als islamistische."

Kollege Rohe schließt sich an: "Der säkulare Staat muss in seinem Wirkungsbereich religiös und weltanschaulich neutral bleiben. Das heißt aber nicht, dass Religion aus dem öffentlichen Raum verbannt werden muss." Die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes sei bei manchen Kopftuchverboten eklatant missachtet worden. "Faktisch werden von Verboten nur Frauen benachteiligt; die Religionszugehörigkeit männlicher Bärte wird nicht erfragt", wirft Rohe ein.

Appell für islamischen Religionsunterricht

Theologin Naurath meint deshalb: "Wenn das Gesicht unbedeckt und damit die Kommunikationsfähigkeit nicht eingeschränkt ist, sehe ich keinen Anlass für eine Gefährdung des sozialen Friedens. Im Gegenteil ist es doch im schulischen Kontext eine zentrale Aufgabe, den Umgang mit konfessioneller, religiöser und weltanschaulicher Vielfalt als Dialog- und Pluralitätsfähigkeit zu lernen und einzuüben."

Thielmann sieht in diesem Zusammenhang beispielsweise die Einführung eines islamischen Religionsunterrichtes in Kooperation mit muslimischen Organisationen als lange überfällig.

Dass das Verhältnis von Staat und Religion beständiger Aushandlung unterliegt, wird wohl auch in Zukunft so bleiben. Islamwissenschaftler Rohe merkt dazu an: "Religiöse Symbole haben ihren Platz in der Schule, solange mit ihnen im allseitigen Respekt und mit der gebotenen Zurückhaltung umgegangen wird. Sie spiegeln letztlich die religiöse Vielfalt im Land und bieten Gelegenheit zu einer selbstbestimmten Positionierung dazu."

Über die Experten: Prof. Dr. Elisabeth Naurath lehrt und forscht am Lehrstuhl für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts der Universität Augsburg.
Prof. Dr. Jan Hermelink ist Professor für Praktische Theologie/Pastoraltheologie an der Georg-August-Universität Göttingen.
Simone Fleischmann ist Lehrerin in Bayern und seit 2015 Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands.
Prof. Dr. Dr. Mathias Rohe ist Islam- und Rechtswissenschaftler an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Dr. Jörn Thielmann ist Islamwissenschaftler und Geschäftsführer Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE).

Verwendete Quellen:

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