Pier Paolo Pasolini wurde 1975 ermordet – angeblich erschlagen und überfahren von einem zierlichen Stricher. Seit fast fünf Jahrzehnten rätselt Italien, wer wirklich hinter dem Mord steckt, der eine der kritischsten Stimmen jener Zeit zum Schweigen brachte.

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Der Schauplatz seines Endes wirkt wie eine Kulisse aus seinem Werk. Hier, am Tiber-Ufer in Ostia, circa 30 Kilometer entfernt von der römischen Stadtmitte, verblasst jeder Zauber der Ewigen Stadt. Allein die Badestrände des Lidos sind unschön, mit ihren rostigen Wendeltreppen und so viel Beton. An einer Straße, unweit des Wasserflugplatzes, hat die Stadt ein eingezäuntes Stück Wiese angelegt. Wer das Tor passiert, läuft über einen Pfad vorbei an kleinen Steinfelsen, auf denen lyrische Verse und Zitate angebracht sind. In der Mitte steht eine weiße Skulptur. Sie erinnert an einen der mysteriösesten Mordfälle der italienischen Geschichte.

Am frühen Morgen des 2. November 1975 macht eine Anwohnerin an dieser Stelle einen grausamen Fund. Zwischen Baracken und Bauschutt liegt eine Leiche. Der Tote wurde erschlagen, er wurde massakriert, so übel zugerichtet, dass man ihn kaum erkennt. Ein Auto hat ihn mehrfach überfahren. Ein paar Meter weiter liegt ein Hemd, das noch den Zettel einer Reinigung trägt. Darauf zu lesen ist der Name eines großen Intellektuellen, der den Abgründen des Menschen ein Gesicht gegeben hat. Als er starb, war er nur 53 Jahre alt. Sein Name: Pier Paolo Pasolini.

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Geständnis eines Strichjungen

Wenige Stunden später gesteht ein Jugendlicher die Tat. Die Polizei gabelt Pino Pelosi an der Strandpromenade auf: In einem Alfa Romeo 2000 GT Veloce brettert er die Straße entgegen der Fahrtrichtung entlang. Der Wagen gehört Pier Paolo Pasolini. Pelosi ist ein 17-jähriger Strichjunge, die Medien taufen ihn wegen seiner Augen den "Frosch". Pelosi sagt, ein Mann namens Paolo habe ihn auf dem Schwulenstrich am Hauptbahnhof Termini angesprochen. Für 20.000 Lire sollte er ihn sexuell befriedigen.

Weil er Hunger hatte, seien sie vorher noch essen gegangen, im "Al Biondo Tevere" in Rom-Ostiense. Der Eigentümer des Restaurants wird das später bezeugen. Auf einem Bolzplatz in Ostia habe der Mann ihn mit einem Holzstück angegriffen, erklärt Pelosi weiter. Er habe sich gewehrt, den Angreifer überwältigt. Als er mit dem Alfa Romeo abhauen wollte, habe er ihn wahrscheinlich aus Versehen überfahren.

Eigentlich ist klar: Der "Frosch" kann den Mann nicht alleine umgebracht haben. Der Junge hat weder Blutflecken an seiner Kleidung noch eigene Verletzungen an seinem Körper. Die Gerichtsmediziner stellen fest, dass der Tote mit schweren Metallgegenständen erschlagen wurde. Der "Frosch" hatte nur von einem Holzstück gesprochen.

Und doch geht alles ganz schnell: Pelosi wird 1976 nach Jugendstrafrecht zu neun Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt. Die erste Instanz geht noch davon aus, dass Unbekannte an dem Mord beteiligt waren. Das Berufungsgericht streicht diesen Zusatz – Pelosi wird zum Einzeltäter erklärt.

Bleierne Jahre

Wer nun verstehen will, wer Pasolini war, muss gedanklich zurückreisen, in ein Italien, das weit entfernt war von populistischen Weichspülern wie Silvio Berlusconi. Niemals wieder war das Land so radikal politisch wie in den Siebzigerjahren, niemals so gezeichnet von Gewalt. Die Italiener sprechen heute von den "bleiernen Jahre", denn gefühlt ging fast monatlich irgendwo eine Bombe hoch: Linksterroristen und Neofaschisten lieferten sich einen blutigen Machtkampf, der hunderte Menschen in den Tod riss.

In jenen aufgeladenen Jahren macht sich der Schriftsteller und Lyriker, Essayist und Filmemacher viele Feinde. Pasolini lebt offen homosexuell, er ist Kommunist, aber die Kommunisten dulden einen Schwulen nicht in ihren Reihen. In seinen Werken lässt er das Subproletariat der römischen "Borgate" sprechen, unbeholfene Jungs aus den Vorstädten, in Filmen wie "Accattone" und "Mamma Roma" sind sie Protagonisten und Laiendarsteller zugleich.

Aber nicht nur das. Pasolini polemisiert, wann immer er kann, er poltert gegen den Kapitalismus und den Fortschritt der Nachkriegsjahre. "In wenigen Jahren sind die Italiener zu einem heruntergekommenen, lachhaften, monströsen, kriminellen Volk geworden", schreibt er. Kommunisten, Faschisten und Katholiken – sie alle stören sich an dem Provokateur und zerren ihn mehrfach vor Gericht.

Wusste Pasolini zu viel?

Viele können sich deswegen nicht vorstellen, dass ein Intellektueller, der eine Epoche prägte, so banal geendet ist. Totgeschlagen und überfahren von einem zierlichen Stricher, der nicht einmal wusste, wie man ein Auto fährt. "Pasolini hat seinen Tod gesucht", sagt die Galionsfigur der Christdemokraten, Giulio Andreotti, in einem späteren Interview. Über all dem schwebt die große Frage: Hatten Pasolinis Mörder ein politisches Motiv?

Darauf lassen mehrere Hinweise schließen. In einem Zeitungsartikel deutete Pasolini wenige Monate vor seinem Tod an, die Namen der Attentäter von Mailand, Brescia und Bologna zu kennen. Was damals noch keiner wusste, aber inzwischen belegt ist: Jene Attentate – und noch weitere andere – wurden von einem Geheimbund organisiert, der mit Hilfe von italienischen Staatsmännern und Neofaschisten falsche Fährten zu den Kommunisten legte. Außerdem arbeitete Pasolini bis kurz vor seinem Tod an einem Roman, der sich mit kriminellen Machenschaften des staatlichen Energiekonzerns ENI beschäftigte. Wusste der Schriftsteller vielleicht zu viel?

So behauptet auch die Schriftstellerin Oriana Fallaci in mehreren Zeitungsartikeln kurz nach seinem Tod, Rechtsradikale hätten Pasolini ermordet. Bewohner der umliegenden Baracken hätten ihr gegenüber berichtet, dass sich an jenem Abend mehrere Personen am Tatort aufhielten, die mit Motorrädern angefahren kamen. Vor Gericht aussagen wollte aber keiner dieser Zeugen.

Der "Frosch" widerruft sein Geständnis

Ein bisschen wirkt es, als ob Pasolinis Freunde versuchen, seinen Tod zu romantisieren, der einst mit großen Künstlern wie Federico Fellini, Roberto Rossellini oder Ennio Morricone zusammengearbeitet hatte. Bis der "Frosch" sein Geständnis widerruft. Bereits Anfang der 1980er war er aus dem Gefängnis gekommen und hatte sein Leben als Kleinkrimineller und Autodieb weitergeführt. Nun behauptet er, alles war anders.

In einem Fernsehinterview mit Rai sagt der Verurteilte 2005, er habe Pasolini gar nicht getötet. Stattdessen hätten drei Männer, die er nicht kannte, den Schriftsteller niedergeschlagen. Sie seien mit einem sizilianischen Auto unterwegs gewesen, sie hätten ihr Opfer auf Sizilianisch als "Schwuchtel" und "Kommunisten" beschimpft. Die Männer hätten seine Eltern bedroht, sollte er im Prozess gegen sie aussagen.

Deswegen habe er geschwiegen, und "30 Jahre in Angst" gelebt. Nun seien seine Eltern aber gestorben. Später ergänzt Pelosi: Die Männer seien aus Rom gekommen und hätten Pasolini mit einem Auto überfahren, das ebenfalls ein Alfa Romeo 2000 gewesen sei. Die Staatsanwaltschaft vermutet, dass zwei bekannte Neofaschisten sizilianischer Herkunft gemeint sind. Nur sind die beiden inzwischen verstorben.

Nach Ostia gelockt?

Pelosis Aussage passt zu einer Theorie des Filmemachers Sergio Citti, die ebenfalls 2005 aufploppt. Pasolini habe sich am Tag seines Todes nach Ostia begeben, sagt Citti, um dort gestohlenes Material zurückzubekommen. Dabei ging es um Filmrollen aus seinem noch nicht veröffentlichten Film "Die 120 Tage von Sodom": Der Streifen ist eine sadistische Faschismus-Parabel voller schwer auszuhaltender Szenen und wurde in vielen Ländern zensiert. Das Fernsehen darf ihn in Deutschland bis heute nicht zeigen. Ein unbekannter Anrufer habe Pasolini nach Ostia gelockt, sagt Citti, und ihm die Rückgabe der Filmrollen versprochen. Ein Mord aus dem Hinterhalt also, im Auftrag von Faschisten?

Das Drängen hunderter Autoren erwirkt, dass die Justiz den Fall neu aufrollt. Die Ermittler finden tatsächlich die DNA-Spuren drei weiterer Männer an der Kleidung Pasolinis. Wann sie auf die Kleidung kamen, wem genau sie gehören - die Antwort darauf finden sie nicht. 2015 schließen die Richter die Akte wieder. Zwei Jahre später stirbt der "Frosch". Die Wahrheit über jene Nacht nimmt er mit ins Grab.

Und so wird Pasolinis Tod zu einem Mythos, der sich immer wieder an neuen Verschwörungstheorien nährt. Auch Roms Rechtsextremisten lassen dem Schriftsteller keine Ruhe. Sie beschmieren Wandbilder, die ihm gewidmet sind, vor wenigen Jahren verwüsteten sie auch das Denkmal, das in Ostia daran erinnert, dass ein weiterer Mordfall in der italienischen Geschichte wahrscheinlich für immer ungelöst bleibt.

Verwendete Quellen:

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