Erneut gehen Zehntausende Menschen in der Türkei gegen Präsident Erdogan auf die Straße. Auch aus Deutschland kommt Kritik. Denn die kurdische Gemeinde sieht die Demokratie in der Türkei vor dem Untergang – und fordert eine klare Reaktion.
In der Türkei haben erneut Zehntausende Menschen gegen die Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu protestiert und die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan zum Rücktritt aufgefordert. Trotz Demonstrationsverbots gingen den sechsten Abend in Folge Menschen in Istanbul, Ankara und anderen Städten des Landes auf die Straße.
In Istanbul zogen Zehntausende Menschen – darunter viele Studierende – in einem Protestzug zum zentralen Kundgebungsort vor dem Sitz der Stadtverwaltung. Sie schwenkten türkische Fahnen und riefen regierungskritische Parolen. Auf Fernsehbildern waren zahlreiche Bereitschaftspolizisten und Wasserwerfer zu sehen.
CHP-Chef Özgür Özel würdigte den Einsatz der Demonstranten in einer Rede laut Berichten als "Akt des Trotzes gegen den Faschismus". Er kündigte demnach an, İmamoğlu heute im Gefängnis von Silivri zu besuchen. Die CHP werde sich dafür einsetzen, dass İmamoğlu bis zur Verhandlung freigelassen und sein Prozess live im staatlichen Fernsehsender TRT übertragen werde.
Erdogan nennt Demonstranten "Straßenterroristen"
Erdogan hingegen erhob schwere Vorwürfe gegen die Demonstranten. Offenbar störe es die CHP nicht, dass "Straßenterroristen" die Polizei mit Steinen, Stöcken und Äxten angriffen. Die Justiz werde sie dafür zur Rechenschaft ziehen.
Seit Beginn der Proteste wurden laut Innenministerium mehr als 1.100 Menschen festgenommen, darunter mindestens zehn Journalisten und Fotografen. Mehr als 120 Polizisten seien verletzt worden. Offizielle Zahlen zu verletzten Protestteilnehmern gibt es nicht.
İmamoğlu gilt als Erdogans aussichtsreichster politischer Herausforderer bei der für 2028 angesetzten Wahl und wurde von der größten Oppositionspartei als Kandidat aufgestellt. Er war am Mittwoch ebenso wie zahlreiche seiner Mitarbeiter festgenommen worden. Am Sonntag ordnete ein Gericht wegen Vorwürfen der Korruption seine Inhaftierung an. Wenig später suspendierte ihn das Innenministerium von seinem Amt als Bürgermeister. İmamoğlu selbst bestreitet alle Vorwürfe und wirft der Regierung vor, ihn mit den Ermittlungen politisch kaltstellen zu wollen.
In Istanbul, Ankara, Izmir und anderen Städten gingen Menschen seit Mittwoch trotz Verboten zu Zehntausenden auf die Straßen. Besonders am Sonntagabend gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Einsatzkräften und Demonstrierenden. Die Polizei setzte Berichten zufolge Wasserwerfer und Tränengas ein.
Kurden in Deutschland: "Das ist Erdogans letztes Gefecht"
Der Bundesvorsitzende der Kurdischen Gemeinde, Ali Ertan Toprak, forderte derweil ein Ende der "Appeasement-Politik" gegenüber dem türkischen Präsidenten Erdogan gefordert. "Das ist Erdogans letztes Gefecht", sagte Toprak dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Wenn er gewinnt, wird es in der Türkei zu einer Diktatur kommen."
Aus Topraks Sicht sind die derzeitigen Massendemonstrationen in der Türkei "das letzte Aufbäumen der Demokraten." Man dürfe die Demonstranten "jetzt nicht allein lassen", forderte er. "Mit der Appeasement-Politik gegenüber Erdogan muss endlich Schluss sein."
Appeasement kommt vom englischen Verb "appease" für beschwichtigen oder besänftigen. Im Kontext der internationalen Beziehungen meint der Begriff eine Politik der Zurückhaltung oder des Entgegenkommens gegenüber aggressiv auftretenden Staaten – mit dem Ziel, einen Krieg zu verhindern. Verbunden ist der Begriff insbesondere mit der Politik des von 1937 bis 1940 regierenden britischen Premierministers Neville Chamberlain gegenüber Hitler-Deutschland.
Zudem forderte Toprak die sofortige Einstellung jeglicher Unterstützung für Ankara. Wenn der beliebte Oppositionspolitiker İmamoğlu und der ebenfalls inhaftierte Co-Vorsitzende der pro-kurdischen Partei DEM, Selahattin Demirtaş, nicht freigelassen würden, dürfe es "keine weitere finanzielle und politische Unterstützung der Türkei mehr geben".
Die Demonstrationen der vergangenen Tage sind die größten in der Türkei seit den sogenannten Gezi-Protesten von 2013. Die weitestgehend friedlichen Proteste richteten sich damals zunächst gegen ein Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park und später gegen die autoritäre Politik des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Erdogan. Die Regierung sprach von einem Umsturzversuch und ließ die Proteste brutal niederschlagen.