Aktuell sind nur wenige Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit Demokratien. Doch liegt das allein an der Religion, wie gerade rechte Kreise immer wieder behaupten? Politikwissenschaftler Oliver Hidalgo spricht im Interview über das Verhältnis des Islams zur Demokratie und die Ursachen für die vielen autokratisch regierten islamischen Staaten.
Es ist eine Frage, die polarisiert und gerade konservative Kreise spaltet: Gehört der Islam zu Deutschland? Gerade aus der rechten Ecke ist die Antwort ein deutliches „Nein“.
Die Begründungen dafür ähneln sich: Der Islam sei nicht kompatibel mit demokratischen Werten, erklärte etwa der kirchenpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Volker Münz der Evangelischen Nachrichtenagentur idea. Der Islam sei für die Demokratie eine "ernste Herausforderung", heißt es in der AfD-Broschüre "Der Islam. Fakten und Argumente". Und AfD-Vize
In der Realität ist die Gleichung allerdings nicht so einfach, wie es die Rechtspopulisten glauben machen wollen. Das wird im Interview mit dem Politikwissenschaftler Oliver Hidalgo deutlich, mit dem unsere Redaktion über das Verhältnis des Islams zur Demokratie gesprochen hat.
Schließen sich Islam und Demokratie wirklich aus, wie AfD und Co. behaupten?
Gleich vorneweg: Zu fragen, welche Rolle 'dem' Islam in diesem Zusammenhang zukommt, ist durchaus legitim. Aber es ist völlig sinnfrei, von einer Art Automatismus auszugehen, der verhindert, dass sich in den meisten muslimischen Ländern bislang Demokratien entfalten konnten.
Warum?
Die Gründe dafür, ob sich in einem bestimmten Land eine Demokratie etabliert oder nicht, sind erwiesenermaßen deutlich komplexer, als dass eine bestimmte Art Religion – egal welche – ein politisches System vorbestimmen würde.
"Demokratisierungsprozesse erleiden massive Rückschläge"
Dennoch ist Fakt, dass derzeit nur wenige muslimische Staaten demokratisch regiert werden.
Das ist richtig. Tatsächlich gelten laut dem aktuellen Bericht von Freedom House von den Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung nur Tunesien und Senegal als Demokratien, in früheren Jahren galt dies beispielsweise aber auch für Indonesien oder die Türkei.
Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen: Dass Demokratisierungsprozesse bisweilen massive Rückschläge erleiden, wie derzeit beispielsweise in Ägypten oder Pakistan, ist auch in christlich geprägten Ländern beileibe kein unbekanntes Phänomen, da reicht ein Blick in unsere unmittelbare Nachbarschaft oder auch die eigene Geschichte.
Saudi-Arabien, Syrien, Libyen oder Turkmenistan – was sind die Ursachen für die vielen autokratisch regierten Länder, in denen die Mehrheit der Bevölkerung Muslime sind?
Hier wird es kompliziert. Man kann die repolitisierten und radikalisierten Strömungen im Islam seit dem 18. Jahrhundert ohne die vorherige Kolonisierung der muslimischen durch die westliche Welt gar nicht verstehen. Es sind also letztlich schwierige Wechselwirkungen am Werk, die das Demokratiedefizit in der muslimischen Welt erklären helfen, ohne dass 'der' Islam als Sündenbock dienen müsste.
Außerdem geraten hier zum Teil Ursache und Wirkung durcheinander. Anstatt alles auf den Islam zu schieben, sollten wir uns klarmachen: Demokratisch beziehungsweise rechtsstaatliche Systeme verändern und mäßigen die Religionen, wohingegen repressive Systeme oftmals auch Religionen radikalisieren. Deswegen wandten und wenden sich viele Islamisten gegen das autokratische Herrschaftssystem im eigenen Land. Sie versuchen mitunter sogar, die Demokratie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.
Damit sich Religion – egal welcher Art – und Demokratie in einem Land wirklich versöhnen, müssen beide wie kommunizierende Röhren verfahren, sprich sich einpegeln. So hat zum Beispiel die katholische Kirche ihren Frieden mit der Demokratie gemacht, obwohl sie ursprünglich absolut dagegen war. Es ist also nicht die Religion, der Katholizismus, Hinduismus oder Islam, die das politische System determiniert. Vielmehr müssen sich Politik und Religion gegenseitig tolerieren, damit letztere Teil der Demokratie wird. Ein solcher Vorgang ist grundsätzlich natürlich auch für 'den' Islam möglich.
Mitschuld des Westens
Schaut man sich einzelne muslimisch geprägte Länder an, so gab es in vielen bereits durchaus ernsthafte und weitreichende Versuche, Demokratien zu installieren.
Der Iran ist da ein gutes Beispiel. Dort sind die Versuche bislang aber auch daran gescheitert, weil die westlichen Länder lieber einen autokratischen Herrscher wie seinerzeit den Schah unterstützten als die demokratisch gewählten, im Westen jedoch unliebsamen Machthaber. Irans Premierminister Mohammad Mossadegh wurde in den 1950er Jahren mithilfe von US-amerikanischen und britischen Nachrichtendiensten gestürzt.
So oder so verläuft aber eine Entwicklung zur Demokratie niemals monokausal, sondern hängt von viel mehr Faktoren ab, als von einer bestimmten Religion. Dazu kommt: Gerade 'der' Islam ist in der religiösen Praxis derart vielfältig, dass es von vornherein höchst abenteuerlich wäre, vom islamischen Glauben eine wie immer geartete vereinheitlichende politische Wirkung anzunehmen.
Und die Muslime selbst?
Viele Umfragen zeigen, dass es unter Muslimen genauso Menschen mit demokratischer und nicht-demokratischer Einstellung gibt, wie in anderen Religionen auch. Und diese Einstellung färbt dann schließlich ebenso auf die Auslegung des Koran ab. Diese simple Tatsache wird im Westen oft verkannt.
Viele wollen zudem nicht akzeptieren, dass die Demokratievorstellungen von Muslimen nicht einfach eins zu eins denen westlicher Gesellschaften entsprechen. Es geht also vor allem darum, die Offenheit von Demokratie zu verstehen, ohne dass letztere beliebig werden darf. Das wird daher noch ein schwieriger Prozess – auf beiden Seiten.
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