• Innerhalb weniger Wochen haben die Taliban in Afghanistan die größten Städte eingenommen und die Macht ergriffen.
  • Schon einmal regierte die radikalislamische Bewegung am Hindukusch, mehr als 70.000 Kämpfer sollen zu ihnen zählen. Wie sind die Islamisten organisiert, welche Ziele verfolgen sie?
  • Wir beantworten mit Afghanistan-Kenner Boris Barschow die wichtigsten Fragen.

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Nach dem Truppenabzug der US-amerikanischen Soldaten hat die radikal-islamische Gruppierung Taliban in Afghanistan binnen weniger Wochen zahlreiche Städte eingenommen und die Macht ergriffen. Tausende Afghanen versuchen aus dem Land zu flüchten, sie fürchten die radikale Ideologie der Taliban.

Schon von 1996 bis 2001 stand das Land am Hindukusch unter der Herrschaft der Taliban, auch jetzt wollen sie wieder ein "Islamisches Kalifat Afghanistan" errichten. In den vergangenen 20 Jahren hatten westliche Kräfte versucht, Sicherheit in Afghanistan zu schaffen, Terrorismus zurückzudrängen und die Demokratie wiederaufzubauen. Diese Mission ist nun offenkundig gescheitert. Wer aber sind die Taliban überhaupt, wie sind sie organisiert und welche Ziele verfolgen sie? Wir beantworten die wichtigsten Fragen.

Wer sind die Taliban überhaupt?

Die Übersetzung des arabischen Wortes "talib" gibt einen Hinweis darauf, wo die Taliban ihren Ursprung haben: "Es bedeutet übersetzt so viel wie Schüler oder Lernender", sagt Afghanistan-Kenner Boris Barschow im Gespräch mit unserer Redaktion. Der Journalist war dreimal als Reservist in Afghanistan im Einsatz.

Anfang der 1990er Jahre sind die Taliban aus pakistanischen Koranschulen hervorgegangen. Dort studierten afghanische Männer, die vor der sowjetischen Besatzung geflohen waren. "Es handelt sich um Gebiete nahe der sogenannten Durand-Linie, die durch paschtunische Stammesgebiete verläuft", sagt Barschow. Die Durand-Linie bildet die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan. Nach den britisch-afghanischen Kriegen wurde sie künstlich gezogen. Erstmals in Erscheinung traten die Taliban dann 1994 im Bürgerkrieg in der afghanischen Stadt Khandahar.

Was wollen die Taliban?

"Die Taliban wollen einen islamischen Gottesstaat, so, wie sie ihn auch schon Mitte der 90er versucht haben aufzubauen", sagt Barschow. Nach den Anschlägen auf das World-Trade-Center in New York, die den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr auslösten, versuchte der Westen 20 Jahre lang, das Land zu demokratisieren.

Die Taliban wollen die Errungenschaften wieder rückgängig machen, streben eine "wahre islamische Herrschaft an", die einen Ur-Islam aus dem Mittelalter zum Vorbild hat. "Dazu zählt auch die Scharia als Rechtsrahmen", sagt Barschow.

Scharia als Rechtsrahmen

Die Scharia sieht zum Beispiel Strafen wie Steinigungen und Hand abhacken vor. Die Taliban schreiben strenge Religionsregeln vor: Unter der bislang letzten Herrschaft der Taliban durften Frauen nicht arbeiten und mussten sich vollverschleiern, Männer mussten Bärte tragen, Musik und Fernsehen waren als "weltliche Einflüsse" verboten.

"Auch jetzt hängen die Afghanen aus Angst Bilder von Frauen ab, Musiker verstecken sich", sagt Barschow. Politische Ziele haben die Taliban nie detailliert dargelegt. Sie konzentrieren sich jedoch auf Afghanistan und haben zugesagt, keine anderen Länder zu bedrohen.

Wie viele Taliban gibt es und wie sind sie organisiert?

Wie viele Kämpfer und Anhänger die Taliban zählen, ist unklar. Im vergangenen Jahr schätzte der UN-Sicherheitsrat die Zahl der Kämpfer auf bis zu 85.000. "Es gibt verschiedene Strömungen mit mehr oder weniger ideologisierten Kämpfern", sagt Barschow. Geführt werden die Taliban von islamischen Geistlichen, wobei Mawlawi Haibutullah Achundsada als "Befehlshaber der Gläubigen" an der Spitze steht.

Der etwa 60-jährige Paschtune zählt zu den Gründungsvätern der Taliban und wurde von seinem Vater zum muslimischen Geistlichen ausgebildet. Als solcher unterrichtete er in der Koranschule in Kandahar. Im nun ausgerufenen Kalifat gilt Achundsada als designiertes Staatsoberhaupt. Mullah Omar, ebenfalls Gründungsvater der Taliban, wurde bei einem US-Drohnenangriff getötet. Dessen Sohn Mullah Jakub steht heute der Militärkommission der Taliban vor und steuert das Netzwerk aus zahlreichen Milizen.

Afghanistan: Bundeswehr bringt über 125 Menschen aus Kabul

Die Bundeswehr hat bei ihrem zweiten Evakuierungsflug mehr als 125 Menschen aus Kabul gebracht. Laut Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) waren an Bord der Maschine sowohl deutsche wie auch afghanische Staatsbürgerinnen und -bürger und Menschen aus anderen Ländern. © ProSiebenSat.1

Unterstützung durch Terrornetzwerke

Zu den vier Stellvertretern des Anführers Achundsada zählt Mullah Abdul Ghani Bardar. Er gilt als führender Stratege der Fundamentalisten und steht dem politischen Büro der Taliban in Ktar vor. Auch dem Stellvertreter Siradshuddin Haqqani, der das Haqqani-Terrornetzwerk anführt, wird großer Einfluss nachgesagt.

Die Taliban haben zudem Unterstützung durch weitere terroristische Netzwerke: So hat beispielsweise der Chef des Terrornetzwerkes Al-Kaida, Aiman al-Sawahiri, den Taliban seine Hilfe zugesichert.

Wie haben sich die Taliban in den vergangenen 20 Jahren gewandelt? Sind sie wirklich gemäßigter?

In den vergangenen 20 Jahren haben die Taliban dazugelernt und sind politisch erfahrener geworden. "Sie wollen ihr Image wandeln und moderater auftreten", sagt Barschow. So haben sie beispielsweise seit mehreren Monaten keine Selbstmordattentate in afghanischen Städten für sich beansprucht. Die Strategie dahinter: Die Taliban wissen, dass sie nicht gegen die Mehrheit der Bevölkerung regieren können und wollen Zivilisten für sich gewinnen.

"Die Taliban haben auch erklärt, sie wollen mehr auf den Schutz der Zivilisten achten und Frauenrechte achten", sagt Barschow. Regierungsmitgliedern solle Amnestie gewährt werden. Barschow hält das jedoch für ein Fassadenspiel. "Die Taliban sind noch immer sehr brutal und es gibt Berichte, wie sie Zivilisten in Häusern suchen", sagt Barschow. Er glaubt, die Taliban wollten durch ihr offeneres Auftreten nur eine ruhigere Machtübernahme erreichen.

Über den Experten:
Boris Barschow arbeitet für das ZDF und ist Buchautor. Er war mehrmals als Reservist in Afghanistan vor Ort, unter anderem als psychologischer Kriegsführer und als kultureller Einsatzberater. Barschow betrieb jahrelang den Afghanistan-Blog und schrieb das Buch "Kabul, ich komme wieder".

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Boris Barschow
  • Bundeszentrale für Politische Bildung: Taliban
  • ZDF.de: Afghanistan: Wer die wichtigsten Taliban-Anführer sind. 16. August 2021.
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