Seit Dezember des vergangenen Jahres wird Argentinien von einem Staatspräsidenten geführt, der den Klimawandel leugnet, sich gegen Abtreibungen ausspricht und den Staat radikal abbauen will. In den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit hat er bereits einige seiner Forderungen umgesetzt. Was ein Experte dazu sagt und warum er den 53-Jährigen für gefährlich hält.
Rund 100 Tage ist es her, dass der Libertäre
Seine Wahlkampfversprechen waren radikal: ein harter Sparkurs, Privatisierung und Staatsabbau, Marktöffnung, Deregulation. "Heute beginnt der Wiederaufbau Argentiniens. Heute beginnt das Ende des Niedergangs", hatte der ultraliberale Ökonom laut "Tagesschau" angekündigt.
Zu den Forderungen des Populisten zählte beispielsweise, die argentinische Währung Peso durch den Dollar zu ersetzen, die Abschaffung der Zentralbank sowie Kürzungen der öffentlichen Ausgaben "mit der Kettensäge".
Übernahme in schwierigen Zeiten
Milei übernahm Argentinien in turbulenten Zeiten: Die Staatskasse war leer und ohne Devisenreserven, die Bevölkerung zu großen Teilen verarmt und die Inflationsrate lag zeitweise über 25 Prozent pro Monat. Gleichzeitig war der argentinische Staat geprägt von Korruption und Ineffizienz.
Wie viel von seinen Wahlkampfversprechen konnte er halten? "Die Performance der Regierung beurteile ich zwischen mangelhaft und ungenügend, aber in puncto Wahlkampfversprechen erreicht er vermutlich ein gut bis befriedigend", sagt Argentinien-Experte Peter Birle.
Radikale Sparmaßnahmen
So hat Milei beispielsweise die Anzahl der Ministerien halbiert und staatliche Subventionen, etwa für Gas und den öffentlichen Personennahverkehr, radikal gekürzt. Ebenso ist es Milei gelungen, korrupte Praktiken der Vorgängerregierungen aufzudecken – in Millionenhöhe.
"Die Wirtschaft ist das zentrale Wahlkampfthema und das Motiv dafür gewesen, dass er gewählt wurde", erinnert Birle. Die Ideen des konservativen Populisten würden aber noch deutlich weiter gehen.
"Er bezeichnet sich selbst als Anarchokapitalist und will einen massiven Staatsabbau, der über alles hinausgeht, was es in der Geschichte des Landes bisher gegeben hat", erklärt der Experte. Der Staat müsse aus Mileis Sicht nur für Sicherheit und Verteidigung sorgen, die Wirtschaft wolle er gänzlich dem Markt überlassen.
Land verarmt weiter
Wie erfolgreich Mileis Wirtschaftskurs mittelfristig sein wird, lässt sich aus Birles Sicht zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beurteilen. Zwar beginne die Inflation langsam zu sinken und der Staatshaushalt sei ausgeglichener – allerdings auf Kosten der sozialen Entwicklung.
"Seine Maßnahmen treffen bislang vor allen Dingen die armen Teile der Bevölkerung und die Mittelschicht. Es gab vorher schon viel Armut, aber in den letzten 100 Tagen hat sie noch einmal massiv zugenommen", warnt Birle. Auch der Hunger nehme zu und es habe einen massiven Einbruch des Konsums gegeben. Argentinien steckt in einer tiefen Rezession.
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Hohe Armutsquote
"Die Woche um Ostern ist traditionell eine Woche, in der die Argentinier kurze Reisen machen. Viele können sich das absolut nicht mehr leisten. Das hat Konsequenzen für die kleinen und mittleren Unternehmen, die im Konsumbereich und im Dienstleistungsbereich tätig sind", sagt der Experte. Auch die Marktöffnung des Landes setze inländische Betriebe enorm unter Druck.
Während im ersten Halbjahr 2023 bereits 40,1 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen waren, waren es im Januar 2024 sogar 57,4 Prozent. Beobachter fürchten, dass aus der steigenden Armut auch soziale Unruhen resultieren könnten – diese Gefahr sieht auch Birle.
Auch um die innere Sicherheit, die Milei zu verbessern versprach, ist es nicht gut bestellt: Zwar wurden unter Milei, etwa durch den Gouverneur von Santa Fe, die Haftbedingungen für Mitglieder von Banden der organisierten Kriminalität deutlich verschärft, doch die Reaktion kam prompt: Eigentlich rivalisierende Kartelle drohen gemeinsam, täglich einen Unschuldigen zu ermorden, wenn die Provinzregierung ihren Forderungen nicht nachgibt.
Rückhalt in der Bevölkerung
"Laut Umfragen steht dennoch noch immer mehr als die Hälfte der Argentinier hinter Milei. Sie setzen auf ein Versprechen von ihm: Er hat bevor und nachdem er gewählt wurde gesagt, es wird nicht sofort besser werden. Wir werden durch eine schwierige Zeit gehen und erst dann wird es besser werden", erklärt Birle.
Sein deutlicher Wahlsieg, der als Ausdruck eines klaren Veränderungswillens der argentinischen Gesellschaft interpretiert wurde, sei seine einzige Macht – Milei hat keine Mehrheit im Abgeordnetenhaus und im Senat. Der 53-Jährige regiert bislang per Dekret. Ob dies mittelfristig weiter funktionieren wird, ist fraglich, denn das Parlament kann Dekrete mit einfacher Mehrheit für ungültig erklären. Ein von Milei Ende Dezember erlassenes Mega-Dekret steht gegenwärtig auf dem Prüfstand. Reformen im Bereich des Arbeitsrechtes, die ebenfalls Bestandteil dieses Dekrets waren, wurden bereits von den Gerichten gestoppt.
Land ist polarisiert
"Milei hat im Februar einen sehr umfassenden Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, mit mehreren hundert Einzelpunkten. Ein zentraler Punkt war, dass er sich vom Parlament sozusagen einen Freibrief holen wollte für eine zweijährige Herrschaft per Dekret und mit der Möglichkeit auf zwei Jahre Verlängerung", sagt Birle. Das Parlament habe das jedoch abgelehnt. Beobachter deuteten das als herben machtpolitischen Rückschlag. Nun will Milei im Mai einen weniger umfassenderen Gesetzentwurf einbringen.
"Milei hat bereits im Wahlkampf und auch jetzt weiterhin das Land stark polarisiert", sagt Birle. Dabei habe er die "guten Argentinier" gegen die "Kaste" gestellt, womit die politische Klasse gemeint sei. Der Experte warnt vor dem, was der Abtreibungs-Gegner und Antifeminist noch umsetzen könnte. Milei leugne den menschengemachten Klimawandel und relativiere die Verbrechen der letzten Militärdiktatur.
"Da kommt noch einiges auf Argentinien zu"
"Im Kern geht es bei seiner Politik um Wirtschaft, aber seine Vorstellungen gehen deutlich weiter. Es sind viele gesellschaftliche Bereiche, die er mit seiner Politik angreift und die er völlig umkrempeln wird", meint Birle. Er ist sich sicher: "Da kommt noch einiges auf Argentinien zu."
Ein argentinischer Bischof habe in Bezug auf Mileis politischen Stil vor kurzem von einer "Entmenschlichung der argentinischen Politik und Gesellschaft" gesprochen. Auch Birle meint: "Es ist grauenhaft, wie Milei mit anderen Menschen, mit politischen Gegnern, aber auch denjenigen, die politisch gar nicht so weit entfernt sind, umgeht. Er hat beispielsweise das Parlament, nachdem es seinen Entwürfen nicht zugestimmt hatte, pauschal als ein Rattennest bezeichnet."
Milei zeige autoritäre Charakterzüge und sei bislang absolut dialogunwillig. Dass sich das in den nächsten 100 Tagen seiner Regierungszeit ändert, hält Birle für unwahrscheinlich. "Die nächsten Wahlen sind die Parlamentswahlen am Ende des kommenden Jahres. Da könnten sich die politischen Machtverhältnisse ändern, aber bis dahin kann einiges passieren", sagt er.
Über den Gesprächspartner
- Dr. Peter Birle, Politik- und Kommunikationswissenschaftler, ist Wissenschaftlicher Direktor des Ibero-Amerikanischen Instituts Preußischer Kulturbesitz in Berlin.
Verwendete Quellen
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