Ronja von Wurmb-Seibel lebte und arbeitete ein Jahr lang in Kabul. Die damals 27 Jahre alte Journalistin aus Deutschland wollte mehr von dem Land erfahren, das man hier nur aus der Kriegsberichterstattung kennt - und Geschichten über die Menschen in Afghanistan erzählen.

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2013 in Afghanistan: 3.721 Menschen werden bei Terroranschlägen getötet. 161 Soldaten aus westlichen Ländern fallen.

Es ist Ende 2013, als Ronja von Wurmb-Seibel nach Kabul zieht. Nicht, um noch mehr von Anschlägen zu berichten, sondern um die Menschen in Afghanistan kennenzulernen. Ihre Begegnungen und Erlebnisse fasst sie in ihrem Buch zusammen: "Ausgerechnet Kabul - 13 Geschichten vom Leben im Krieg". Welche Bilanz kann man aus dem deutschen Afghanistan-Krieg ziehen? Womit haben die Frauen dort wirklich zu kämpfen? Und welche Rolle spielen Krieg und Terror im Alltag? Im Gespräch mit unserem Portal erzählt Ronja von Wurmb-Seibel von ihrem Jahr in Afghanistan.

Wie war es für Sie, nach einem Jahr in Kabul nach Deutschland zurückzukehren?

Ronja von Wurmb-Seibel: Am Anfang war alles extrem ungewohnt in Deutschland. Da ich aber schon seit mehr als drei Monaten wieder hier bin, habe ich mich inzwischen wieder eingelebt. Einiges kommt mir allerdings immer noch etwas komisch vor: In Afghanistan isst du beispielsweise nie alleine, du bist immer unter Freunden und auf der Straße reden alle miteinander. Das ist natürlich anders, wenn man dann in Deutschland in der U-Bahn sitzt, jeder mit Laptop oder Handy…

Sie haben Ihre Erfahrungen in Afghanistan in dem Buch "Ausgerechnet Kabul" festgehalten. Wieso sind Sie ausgerechnet nach Kabul?

Das hat sich Stück für Stück ergeben. Zum ersten Mal bin ich im Sommer 2012 mit der Bundeswehr nach Afghanistan gereist, nach Masar-e Scharif. Dort habe ich ein bisschen von Afghanistan gesehen, gerade eben so viel, dass es mich neugierig gemacht hat. Danach wollte ich einfach noch einmal wiederkommen. Als nächstes habe ich vor Ort eine Geschichte über junge Deutsch-Afghanen recherchiert, die in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Dort habe ich das ganz normale Kabul kennen gelernt: Ich war bei Yoga-Stunden und beim Kauf von Holzöfen dabei. Ich habe gehört, wie Leute sich über verschiedene Rezepte für Basilikum-Pesto ausgetauscht haben… Es war alles sehr normal, und gar nicht so dramatisch, wie man es sich vorstellt. Dadurch habe ich Gefallen an diesem Land gefunden und mich schließlich dazu entschlossen, dorthin zu ziehen.

Ihr Buch erzählt Geschichten von Begegnungen. Welche dieser Begegnungen blieb Ihnen besonders im Gedächtnis?

Das ist schwierig, eine auszuwählen! Vielleicht eine sehr frühe Begegnung, die inhaltlich eigentlich gar nicht so bedeutend war, für mich aber sehr viel Gewicht hatte: Ein junger Afghane fragte mich: Wenn ich nach Deutschland kommen würde, könnte ich dann jedes Mädchen küssen? Ich meinte natürlich 'Nein' und wollte wissen, wie er auf die Idee kommen würde. Er sagte: 'Ein Freund von mir war gerade in London. Und der hat gesagt, die Leute haben sich überall geküsst! Auf der Straße, in der Straßenbahn, in den Geschäften…' Da habe ich ihm erst einmal erklärt, dass man sich zwar überall küssen darf, aber nur, wenn das die Frau auch möchte. Und dass es sich dabei in den meisten Fällen um Pärchen handelt. Es war zwar nur ein kleiner unbedeutender Moment, aber es war der erste Augenblick, in dem ich gemerkt habe, dass nicht nur Afghanistan für uns sehr exotisch und fremd ist, sondern dass wir auch fremd auf die Leute wirken, die dort leben.

Was wollten Sie mit Ihrem Aufenthalt erreichen?

Ich hatte vor meinem Umzug ein langes Gespräch mit einem guten Freund. Er fand es nicht gut, dass ich nach Kabul ziehe und glaubte nicht, dass ich etwas bewirken kann. Ich finde, er hatte Recht. Obwohl ich den Beruf als Journalisten wichtig finde glaube ich nicht, dass wir für die Leute vor Ort wahnsinnig viel bewirken. Was man vielleicht ein bisschen verändern kann, ist die Wahrnehmung in Deutschland. Das hatte ich mir vorgenommen: ein anderes Bild von Afghanistan zu zeichnen.

Und haben Sie das Gefühl, das erreicht zu haben?

Ja und Nein. Ich habe sehr viele Menschen getroffen, die sich über diesen anderen Blick auf Afghanistan gefreut haben. Auf der anderen Seite bin ich nur eine von vielen Journalisten, die über dieses Land berichten. Einige kleine Erfolge gab es aber: Zum Beispiel haben wir eine Geschichte gemacht über Blindgänger, die die Nato dort zurücklässt. Aufgrund unserer Recherchen beschloss die Bundesregierung, wenigstens eines dieser Felder zu räumen und die Kosten zu übernehmen. Damit ist das Problem zwar nicht gelöst, aber es ist immerhin ein Anfang.

Sie sind in Afghanistan angekommen, als das erste Feldlager der Bundeswehr im Norden geschlossen wurde. Wie haben die Menschen dort auf den Abzug der Bundeswehr reagiert?

Es gab ganz unterschiedliche Reaktionen. Manche haben sich Sorgen gemacht und ein Erstarken der Taliban befürchtet: 'Was, wenn wieder Chaos ausbricht?' Auf der anderen Seite gab es genauso Leute, die der Meinung waren: 'Gott sei Dank sind die endlich weg, jetzt können wir unser eigenes Ding machen.' Viele hatten den Abzug auch mit einer großen Hoffnung verbunden.

Was meinen Sie, wie es mit dem Land nun weiter geht?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Grundsätzlich sind wahrscheinlich zwei grobe Entwicklungen möglich. Es hängt ja auch davon ab, wie der Westen sich verhält. Die erste Option ist, dass mit dem Abzug der meisten ausländischen Truppen auch die finanzielle Unterstützung nachlässt, und Afghanistan plötzlich mehr oder weniger sich selbst überlassen ist. Ohne weitere Investitionen in grundlegende Infrastruktur wird es sehr schwierig, sich in eine positive Richtung zu entwickeln. Die andere Möglichkeit ist, dass diese Unterstützung eben nicht nachlässt, und dass man trotz des Abzuges der internationalen Truppen Afghanistan im Blick behält. Die afghanische Bevölkerung möchte sowieso, dass sich etwas ändert. Niemand, den ich getroffen habe, wünscht sich die Taliban zurück.

In Deutschland kennt man Kabul vor allem von Meldungen über Anschläge. Gab es Situationen, in denen Sie Angst hatten?

Glücklicherweise war ich nie in der Situation, einen Anschlag sehen zu müssen. Ich habe viele Explosionen gehört… ein unangenehmes Gefühl, weil du weißt, dass gerade Menschen gestorben sind. Aber das war selten mit Angst um mich selbst verbunden, sondern eher mit Angst um meine afghanischen Freunde, die immer auf der Straße unterwegs sind. Aber klar, mir gingen manchmal Gedanken durch den Kopf, wie 'Hoffentlich wirst du nicht entführt, hoffentlich bist du nicht zur falschen Zeit am falschen Ort…' Auf der anderen Seite ist die Gefahr in Kabul sehr abstrakt: In der Stadt leben mindestens vier Millionen Menschen - da muss man schon zur falschen Zeit am falschen Ort sein, um bei einem Anschlag getroffen zu werden.

In Ihrem Buch schreiben Sie: "Frauen haben in Afghanistan einen Haufen Probleme. Trotzdem glaube ich, dass der Fokus auf den Zwang zum Verschleiern nicht hilft. Ich kenne viele starke Frauen, die Kopftuch tragen." Wie haben Sie die Rolle der Frau in Afghanistan erlebt?

Dass es um die Frauenrechte nicht sehr gut bestellt ist, ist ja bekannt: Es gibt häusliche Gewalt und viele Frauen können nicht über ihren Lebensweg entscheiden. Mich haben aber auch viele Dinge überrascht: Zum Beispiel muss man nicht immer explizit für Frauenrechte kämpfen, um etwas für Frauen zu erreichen. Es kann beispielsweise vielmehr helfen, die medizinische Versorgung zu verbessern: Dadurch sinkt die sehr hohe Säuglingssterberate und es werden massiv Krankenschwestern und Hebammen ausgebildet, also mehr Jobs für Frauen geschaffen. Ein weiterer Punkt, der in diese Richtung geht, ist die Behandlung traumatisierter Menschen: Die Weltgesundheitsorganisation sagt, dass 70 Prozent der afghanischen Gesellschaft klinisch traumatisiert sind. Das hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf das Zusammenleben. Wenn man sich verstärkt für Trauma-Behandlungen einsetzt, kann das über ein paar Umwege die häusliche Gewalt reduzieren.

Das zweite, was mich sehr überrascht hat, war, dass sich gerade in den Städten vor allem jüngere Männer für Frauenrechte einsetzen. Die kritisieren den Status Quo genauso wie die Frauen selbst. Das ist anders als beispielsweise in Deutschland, wo die Emanzipationsbewegung sehr feminin ist.

Haben Sie das Kapitel Afghanistan mit Ihrer Rückkehr nach Deutschland abgeschlossen?

Afghanistan wird mich weiter begleiten. Sowohl privat als auch beruflich. Zum einen habe ich einige sehr enge Freunde in Afghanistan, die nicht ohne weiteres nach Deutschland einreisen können. Deswegen bin ich im Zugzwang, sie wieder zu besuchen. Und zum anderen planen wir gerade einen neuen Film. Dafür werde ich im Mai wieder zu ersten Recherchen zurückkehren.

Ronja von Wurmb-Seibel lebte ein Jahr als Journalistin in Kabul. Sie schreibt für diverse Magazine, fotografiert und produziert Filme für deutsche sowie internationale Fernsehsender. Im März 2015 erschien ihr Buch "Ausgerechnet Kabul - 13 Geschichten vom Leben im Krieg".
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