Mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es immer weniger noch lebende Zeitzeugen. Was bedeutet das für die Erinnerungskultur? Wie soll das Wissen über das Dritte Reich und den Holocaust bewahrt werden? Ein Mitarbeiter einer NS-Gedenkstätte im Interview.
Herr Markwardt, über 70 Jahre nach Weltkriegsende werden Zeitzeugen rar. Dabei waren es gerade ihre lebendigen Erinnerungen, die die Verbrechen des Dritten Reiches greifbar und verständlich gemacht haben. Ist das ein Problem für die Erinnerungsarbeit?
Hagen Markwardt: Sicherlich ist es für die Gedenkstätten und die Erinnerungsarbeit eine Herausforderung. Immerhin haben Zeitzeugen, hier verstanden als Opfer der NS-Diktatur, immer wieder wesentliche Impulse für die Etablierung einer vielfältigen Gedenkstättenlandschaft in Deutschland gegeben.
Aber es ist auch eine Chance, gewohnte Arbeitsweisen zu erneuern. So können beziehungsweise müssen die Perspektiven erweitert und andere Aspekte stärker betont werden. Der Besucher soll sich schließlich ein eigenes und kein vorgefertigtes Bild von der Vergangenheit machen.
Warum ist der Kontakt mit Zeitzeugen überhaupt so wichtig?
Zunächst waren Zeitzeugen wichtig, um die Sprachlosigkeit angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen der Nachkriegsgesellschaft zu überwinden. Sie gaben dem abstrakten Grauen, das Millionen Menschen erlitten haben, Unmittelbarkeit und Authentizität.
Damit schufen sie auch Empathie mit den Opfern, die als Ausgangspunkt für die Erinnerung sicherlich wichtig war, aber dort nicht verharren darf. Darüber hinaus stammt ein großer Teil des Wissens um die alltäglichen Lebens- und Leidensbedingungen in den Orten der nationalsozialistischen Verfolgung von ihnen.
Was bedeutet das Sterben der Zeitzeugen für die Arbeit von Gedenkstätten?
Das ist sicherlich von Gedenkstätte zu Gedenkstätte unterschiedlich. In Pirna-Sonnenstein haben wir seit der Eröffnung der Gedenkstätte kaum mit Zeitzeugen gearbeitet, ganz einfach weil es keine Überlebenden der Krankenmorde gab, die von hier hätten berichten können.
Generell hat sich die Vermittlungsarbeit mit Zeitzeugen in vielen Gedenkstätten in den letzten Jahrzehnten reduziert, da man auch die damit einhergehenden Schwierigkeiten erkannt hat.
Welche Schwierigkeiten meinen Sie?
Bei der Vermittlung alleine auf Zeitzeugen zu setzen, zwingt die Gedenkstätten, sich auf eine Perspektive zu verlassen. Dabei kann die Konfrontation mit dem Leid mitunter überwältigend wirken, was aus gedenkstättenpädagogischer Sicht vermieden werden sollte. Und ob Empathie alleine zu Erkenntnisprozessen führt, ist ebenso unsicher.
Was können Museen oder Gedenkstätten jetzt konkret tun?
Die unmittelbar subjektive Erfahrung wird sicherlich verloren gehen. Aber wichtig ist, das Wissen zu sammeln und zu bewahren. Gleichzeitig müssen sich die Gedenkstätten breiter aufstellen und andere Quellen zum Sprechen bringen.
In letzter Zeit gibt es auch eine stärkere Einbeziehung von bauarchäologischen Untersuchungen, die keineswegs Zeitzeugen ersetzen können, aber dem Wunsch der Besucher nach Authentizität entgegenkommen.
Was ist mit Schulen?
Gerade Schulen können die Möglichkeiten einer vielfältigen Gedenkstättenlandschaft nutzen. Allein in Sachsen gibt es eine Menge Einrichtungen, teilweise in Obhut der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, teilweise in freier Trägerschaft, die ein umfassendes Spektrum der politischen Verfolgung in zwei Diktaturen abbilden. Diese haben auch spezielle Bildungsangebote für Schulen. Wer also den "trockenen" Lehrplan abwechslungsreicher gestalten will, kann dies tun.
Nutzen Schulen diese Möglichkeiten denn ausreichend?
Viele Lehrer nutzen das Angebot gerne und immer wieder. Leider gibt es im Schulalltag mit seinem umfassenden und engen Lehrplan nicht immer die nötige Flexibilität für einen solchen Besuch.
Sollte es mehr Bemühungen geben, Zeitzeugen-Interviews digital zu archivieren?
Die technische Konservierung des Wissens der Zeitzeugen ist ein wesentlicher Beitrag, deren Verlust etwas abzumildern. Hier wäre eine stärkere Systematisierung sicher wünschenswert.
Wie steht es insgesamt um die Bemühungen für eine angemessene Erinnerungskultur?
Mehr Bemühungen sind sicher immer wünschenswert. Die Frage ist nur, worin dieses Mehr besteht? Mehr Geld ist nie schlecht, aber sicher nicht der Königsweg.
Wünschenswert wäre aus meiner Sicht auch eine stärkere zivilgesellschaftliche Verankerung der Gedenkstätten. Hier machen einige Initiativen in Sachsen Mut, etwa die Einrichtung einer Gedenkstätte im ehemaligen KZ Sachsenburg oder in der ehemaligen Pathologie in Großschweidnitz, wo die NS-Krankenmorde bis 1945 fortgeführt worden.
Ist das Wegfallen der Zeitzeugengeneration aktuell besonders problematisch, weil Parteien wie die AfD eine neue Erinnerungskultur fordern?
Der Wunsch, diesen Teil der Vergangenheit weniger öffentlich repräsentiert zu sehen, ist ja an sich nicht neu. Diese Widerstände gab es bei der Einrichtung der meisten Gedenkstätten – trotz Zeitzeugen. Hier wird sich zeigen, ob die Zivilgesellschaft eine breite Erinnerungskultur wünscht oder nicht und ob sie bereit ist, diesen Druck auszuhalten.
Rechnen Sie mit einer Zunahme von Holocaust-Leugnungen, wenn die letzten Zeitzeugen nicht mehr leben?
Holocaust-Leugner haben auf Zeitzeugen bislang keine Rücksicht genommen und werden dies auch in Zukunft nicht tun. Ihnen geht es ja auch nicht um Fakten, seien es schriftliche Quellen oder Aussagen von Opfern.
Wie schneidet Deutschland eigentlich im internationalen Vergleich ab, was das Erinnern an die Schattenseiten der eigenen Geschichte angeht?
Deutschland kann auf eine unglaublich vielfältige Erinnerungslandschaft blicken. Diese Fähigkeit zur selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und dem Freilegen der dunklen Flecken ist Zeichen eines Selbstbewusstseins, das im internationalen Vergleich selten ist.
Sicher ist es einfacher und angenehmer, Geschichte zu heroisieren, aber kenntnisfördernd ist es nicht.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.