Chemnitz kommt nicht zur Ruhe. Am Montagabend wird die Innenstadt von rechten und linken Demonstranten belagert. Die Polizei rückt mit Wasserwerfern an, Feuerwerk wird abgebrannt, Gegenstände fliegen durch die Luft. Sechs Menschen werden verletzt. Der SPD-Innenexperte warnt vor der Gefahr inszenierter "bürgerkriegsähnlicher Zustände".

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Zur Eskalation fehlt nicht viel. Nur getrennt durch eine mehrspurige Straße und Hundertschaften der Bereitschaftspolizei stehen sich am Montagabend in Chemnitz die Demonstranten von zwei rivalisierenden Lagern gegenüber.

Nach dem gewaltsamen Tod eines 35-Jährigen am Vortag sowie Attacken von Rechtsextremen auf Ausländer aus einer Spontandemo heraus gleicht die Innenstadt einer belagerten Zone.

Im Stadthallenpark protestieren mehr als tausend Menschen unter dem Motto ""Nein zu Rassismus und Gewalt" für Demokratie. Ihnen gegenüber direkt am Karl-Marx-Monument mobilisiert die rechte Szene ihre Anhänger.

Sie bilden zunächst eine Art Mauer, von der eine unterschwellige Bedrohung und Provokation ausgeht. Insgesamt spricht die Polizei von mehreren Tausend Teilnehmern.

Noch Schlimmeres bleibt aus

Die aggressive Stimmung macht sich bemerkbar: Feuerwerkskörper werden angezündet, Gegenstände geworfen. Mindestens zwei Menschen werden dabei verletzt. Parolen werden skandiert, hasserfüllte Rufe durchdringen die Straßen.

Nur die Polizeikette hält die Gruppen in aufgeheizter Atmosphäre davor zurück, aufeinander loszugehen. Immer wieder müssen einzelne Grüppchen eingefangen werden. Wasserwerfer fahren zwischen den rivalisierenden Seiten auf, kommen aber nicht zum Einsatz.

Der SPD-Innenexperte Burkhard Lischka warnt vor der Gefahr inszenierter bürgerkriegsähnlicher Zustände. "Es gibt in unserem Land einen kleinen rechten Mob, der jeden Anlass zum Vorwand nimmt und nehmen wird, seine Gewaltphantasien von bürgerkriegsähnlichen Zuständen auf unsere Straßen zu tragen", sagte Lischka der "Rheinischen Post".

Polizei verhindert nur mit Mühe Eskalation

Bis zum Ende der Veranstaltungen bleiben größere Zwischenfälle aus. Am späten Abend jedoch werden vier Teilnehmer der rechten Demonstration bei der Abreise durch Angreifer verletzt.

Die Polizei wird später einräumen, dass der Einsatz "nicht störungsfrei" verlief. Der Grund: Personalmangel. Man habe mit einigen Hundert Teilnehmern gerechnet und sich entsprechend vorbereitet, aber nicht mit einer solchen Teilnehmerzahl.

Mit den vorhandenen Kräften habe die Polizei eine Eskalation und ein Aufeinandertreffen der beiden Lager nur mit Mühe verhindern können.

"Ruhe in Frieden, Daniel"

Nur wenige hundert Meter vom Demonstrationsort entfernt markieren aufgehäufte Blumen und Grabkerzen auf dem Bürgersteig den Auslöser für die Aufmärsche. Dort war am Sonntag in Chemnitz ein Mann niedergestochen wurde, der später an seinen schweren Verletzungen im Krankenhaus gestorben ist.

Die für ihn niedergelegten Kerzen brennen nicht mehr, der böige Wind hat die Flammen ausgeblasen. "Ruhe in Frieden Daniel", steht auf einer. Janni und Jonas versprechen auf einem handgeschriebenen Zettel, ihn nie zu vergessen. Auch ein silberfarbenes Kreuz liegt dort mit der Inschrift "In liebevollem Gedenken".

Unter den Blumen sind noch Reste von Blut zu sehen. Zwei Kamerateams haben daneben Aufstellung genommen. Vielleicht halten deswegen an diesem grauen, nieseligen Montagmittag nur wenige Menschen dort inne. Ohnehin ist schwer auszumachen: Wer trauert? Wer ist nur neugierig? Wer vereinnahmt den Tod des Mannes für seine Ziele?

Denn nach Bekanntwerden des Todes des 35-Jährigen beherrschten am Sonntagnachmittag Anhänger rechtsextremer Gruppierungen die Innenstadt von Chemnitz. Knapp vier Monate nach dem Aufmarsch von Neonazis am 1. Mai steht die Stadt erneut wegen rechter Hetze gegen Migranten im Blickpunkt.

Die laut sächsischem Verfassungsschutz rechtsextremistische Hooligangruppierung Kaotic aus dem Umfeld des Fußball-Regionalligisten Chemnitzer FC hatte noch am Sonntag zu einer Spontandemo aufgerufen. Rund 1.000 Menschen, darunter erkennbar zahlreiche Rechte, zogen durch die Innenstadt.

Aus der Masse heraus wurden Ausländer attackiert sowie ausländerfeindliche und rechte Parolen gerufen. Sachsens Linke-Vorsitzende Antje Feiks fühlte sich "an die Pogrome zu Beginn der 1990er Jahre" erinnert.

Der sächsische Regierungschef Michael Kretschmer, Innenminister Roland Wöller (beide CDU) und der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, prangerten Hetzjagden gegen Ausländer und Selbstjustiz an.

Haftbefehle gegen Verdächtige

Unterdessen wurden Haftbefehle gegen zwei Tatverdächtige erlassen. Die Staatsanwaltschaft wirft einem 23-jährigen Syrer und einem 22 Jahre alter Iraker gemeinschaftlichen Totschlag vor. Sie sollen mehrfach ohne rechtfertigenden Grund wie zum Beispiel Notwehr auf den Deutschen eingestochen haben.

Es seien verbale Auseinandersetzungen vorangegangen, hieß es. Die Ermittler kennen das Motiv für die Bluttat noch nicht.

Am Montagabend dann marschieren die Rechten wieder auf. Die rechtspopulistische Bürgerbewegung "Pro Chemnitz" ruft zur Versammlung vor dem Karl-Marx-Monument auf. Dort wird ein Transparent mit dem Spruch "Deitsch un' frei woll'n mer sei" des Dichters Anton Günther (1876-1937) angebracht.

Als Gegenpol fordert Die Linke in Sicht- und Hörweite ein "Nein zu Rassismus und Gewalt". Die dazwischen liegende Brückenstraße ist noch vom Stadtfest gesperrt.

Unheimliche Stimmung in Chemnitz

Stunden zuvor wirkt das Zentrum von Chemnitz auf den ersten Blick wie sonst auch. Letzte Buden und Bühnen des Stadtfestes, das am Sonntag wegen Sicherheitsbedenken vorzeitig beendet wurde, werden abgeräumt. Die Geschäfte haben geöffnet, Passanten bummeln vor Schaufenstern.

Aber es fällt auf: Es fehlen die Gruppen junger ausländischer Männer, die sich gewöhnlich rund um den Stadthallenpark treffen. Auch die Mütter, die dort meist mit ihren Kindern spielen, sind an diesem Tag nicht zu sehen. (sg/mcf/dpa/afp)

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