Nach anfänglichem Schweigen hat sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in die schwere Krise zwischen dem obersten Berufungsgericht und dem Verfassungsgericht des Landes eingeschaltet.
Türkischen Medienberichten zufolge warf Erdogan dem Verfassungsgericht am Freitag vor, "einen Fehler nach dem anderen gemacht" zu haben. Hunderte Anwälte demonstrierten derweil in Ankara für die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts.
In der Auseinandersetzung der beiden Gerichte geht es aktuell um das Schicksal des inhaftierten Abgeordneten Can Atalay, der als Anwalt Teilnehmer der regierungskritischen Gezi-Proteste im Jahr 2013 verteidigt hatte. Wegen "Beihilfe zum Umsturzversuch" war er zu 18 Jahren Haft verurteilt worden, hatte aber bei der Parlamentswahl im vergangenen Mai ein Mandat für die linksgerichtete Arbeiterpartei (TIP) errungen.
Das Verfassungsgericht hatte im Oktober unter Berufung auf Atalays Immunität als Abgeordneter die Freilassung des 47-Jährigen angeordnet. Der Kassationsgerichtshof, der zuvor noch Atalays Verurteilung zu 18 Jahren Haft bestätigt hatte, weigerte sich aber, die Entscheidung umzusetzen. Stattdessen stellte der Kassationsgerichtshof am Mittwoch Strafanzeige gegen die beteiligten Verfassungsrichter, die auf der Seite von Atalay standen.
Erdogan unterstützte die Strafanzeige gegen Mitglieder des Verfassungsgerichts. Sie könne "nicht umgestoßen" oder ignoriert werden, da es sich beim Kassationshof "ebenfalls um ein hohes Gericht" des Landes handle, sagte er.
Gleichzeitig verteidigte der Präsident die Entscheidung, Atalay weiter in Haft zu belassen. Bis das Parlament dessen Immunität aufhebe, werde es noch dauern, argumentiert er. Käme Atalay aber bis dahin frei, könnte er sich ins Ausland absetzen, wie schon "viele Terroristen" vor ihm.
Bei Menschenrechtsaktivisten und der Opposition sorgte der Machtkampf zwischen den beiden Gerichten für große Unruhe. Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Özgür Özel, sprach am Donnerstag von einem "Putschversuch" des obersten Berufungsgerichts. Dieses trachte nach der Beseitigung der "verfassungsmäßigen Ordnung".
In Ankara marschierten hunderte Anwälte am Freitag in ihren schwarzen Roben vom Justizpalast zum Sitz des Kassationsgerichtshofs, um das Verfassungsgericht zu verteidigen. "Wir werden nicht zulassen, dass die Verfassung oder das Verfassungsgericht liquidiert werden. Wir werden weiterhin unsere Stimme erheben", sagte der Vorsitzende der Anwaltskammer der türkischen Hauptstadt, Mustafa Köroglu, vor Journalisten.
Als Reaktion auf die Krise forderte Erdogan zum wiederholten Mal eine grundlegende Änderung der Verfassung. Es gehe nicht um die Frage, wer Recht oder Unrecht habe, sagte der Präsident. Priorität müsse vielmehr die Lösung der durch den Fall aufgeworfenen Probleme haben. "Die Notwendigkeit, dass unser Land so schnell wie möglich eine neue Verfassung bekommt, ist offensichtlich".
Die Krise verstärkt die Sorgen des Westens um die Rechtsstaatlichkeit der Türkei, eines wichtigen Mitglieds der Nato. Kritiker werfen dem islamisch-konservativen Präsidenten vor, die Gerichte seit Jahren zunehmend mit Gefolgsleuten zu besetzen. © AFP
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