Eine Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes bremst bundesweit Bauprojekte aus. Ziel des Gesetzes ist es, Schieneninfrastruktur zu schützen, um Klimaschutz zu fördern. Doch gleichzeitig werden dringend benötigte Flächen für den Wohnungsbau blockiert. Wie kann man dieses Dilemma lösen?
Es ist eine geniale Idee: Eine Stadt verlegt ihren Hauptbahnhof unter die Erde und gewinnt so riesige Flächen bestes Bauland in zentraler Lage. Das Projekt machte unter dem Namen Stuttgart 21 Furore. Doch während der neue unterirdische Bahnhof 2026 seinen Betrieb aufnehmen soll, könnte die Bebauung der Brachflächen auf den letzten Metern ausgebremst werden.
Schuld ist die im Dezember 2023 erfolgte Novellierung des Paragraphen 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes. Diese besagt, dass brachliegende Bahnflächen nur aufgrund eines "überragenden öffentlichen Interesses" bebaut werden dürfen. Das beträfe zum Beispiel Gebäude, die zur Verteidigung dienen oder zur Energieversorgung. Wohnbau jedoch fällt nicht darunter.
Es wäre das Aus für das Stuttgarter Rosensteinquartier. Im Rahmen dieses Projektes sollen auf 85 Hektar des ehemaligen Bahngeländes bis zu 5.700 Wohneinheiten für 10.000 Menschen entstehen. Dringend benötigter Wohnraum im ohnehin extrem angespannten Stuttgarter Markt. 424,4 Millionen Euro hat die Stadt deshalb für die Grundstücke bezahlt.
Novellierung des Eisenbahngesetzes: Spagat zwischen Verkehrswende und Wohnbau
Die Zukunft des Quartiers steht nun im Konflikt mit der Zukunft der Bahn. Denn diese soll der Paragraph 23 sichern. Könnte es doch irgendwann im Rahmen der Verkehrswende zu einer Reaktivierung der Flächen für die Schiene kommen – so zumindest der Gedanke hinter dem Gesetz.
Für die Stadtplanerin Christa Reicher existiert jedoch kein notwendiger Zusammenhang. "Die Erreichung der Ziele der Verkehrswende und des Klimaschutzes sind nicht abhängig von der Flächenverfügbarkeit von Bahngelände", sagt Reicher unserer Redaktion. Zwar sieht sie dringenden Sanierungsbedarf bei der Bahn, dieser hänge jedoch wesentlich "von der Sanierung der vorhandenen Stränge und Infrastruktur ab".
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Der Ausbau der Schieneninfrastruktur ist ein zentrales Element der Verkehrswende. Mehr Güterverkehr soll von der Straße auf die Schiene verlagert und der Personenverkehr klimafreundlicher gestaltet werden. Doch die Realität sieht anders aus. Seit vielen Jahren stockt der Prozess, gerade die Schiene scheint eher ein ungeliebtes Stiefkind.
Bahngesetz blockiert Bauprojekte: Städtetag sammelt Beispiele aus ganz Deutschland
Das neue Gesetz scheint zwei große Problemfelder gegeneinander auszuspielen. Mit der Änderung im Eisenbahngesetz habe man "die damit verbundenen Folgen für die Stadtentwicklung nicht hinreichend in den Blick genommen", bemängelt Christa Reicher.
Und Stuttgart ist bei weitem nicht das einzige Beispiel. Viele Städte hätten sich seit Jahren mit der Entwicklung von Flächen beschäftigt, "die in der Regel innerstädtisch liegen und gute Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Innenentwicklung haben". Diese Flächen würden als "wichtige Bausteine für die Schaffung von Wohnraum in innerstädtischen Lagen" angesehen.
Der Deutsche Städtetag sammelt seit einiger Zeit solche Fälle. Darunter
- allein in Berlin neun Projekte mit insgesamt etwa 5.800 geplanten Wohneinheiten
- das "Glasmacherviertel" in Düsseldorf, mit etwa 1.700 Wohneinheiten das größte Wohnungsbauprojekt der Stadt
- die Projekte "Starnberger Flügelbahnhof" und "Orleanshöfe" in München
Schiene oder Wohnen? Städteplanerin zeigt Kompromisse auf
Nicht immer sind es die großen Wohnbauprojekte, die durch das Gesetz gefährdet sind. Im oberbayrischen Traunstein etwa steht die gesamte Realisierung eines seit Jahren von Stadt und Landkreis geplanten Hochschulcampus still. Und in Ulm wird der Bau eines Parkhauses für Bahn-Pendler ausgebremst.
"Der Bund muss schnellstmöglich für eine kommunalfreundlichere Auslegung des geänderten Allgemeinen Eisenbahngesetzes sorgen", fordert deshalb Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, gegenüber dem Staatsanzeiger für Baden-Württemberg. Sonst drohten "bei vielen wichtigen und großen Stadtentwicklungsprojekten lange Verzögerungen und schlimmstenfalls sogar Stillstand und Aus."
Wie lässt sich das Dilemma also lösen? Es wäre schon dadurch abzumildern, sagt Christa Reicher, dass "nicht die gesamte Entwicklung der Bahnflächen blockiert wird, sondern indem differenziert wird zwischen wahrscheinlich notwendigen Flächen für die Verkehrsinfrastruktur und den eher unwahrscheinlichen Entwicklungsflächen für die Bahninfrastruktur, die den Städten für die Realisierung ihrer Stadtentwicklungsprojekte überlassen werden".
Kommt bald die Novellierung der Novellierung? Stuttgarts OB drängt auf schnelle Lösung
Bei den Überlegungen spielt für Reicher auch die zeitliche Dimension eine Rolle: "Da wir wissen, wie lange es dauern wird, bis diese Potenzialflächen tatsächlich für Schieneninfrastruktur – ob notwendig oder nicht – genutzt würden, werden zunächst einmal in naher Zukunft Brachflächen zementiert, Entwicklungen blockiert oder die Verschwendung von wertvollen Flächen programmiert." Flächen, die man zumindest begrünen und so sinnvoll nutzen könnte. Auch temporäres Wohnen und Gewerbe wäre eine Alternative für Reicher.
Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) drängt derweil auf eine schnelle Entscheidung. Bei einem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Dezember machte er sich laut "stuttgart.de" für eine Änderung des Gesetzes noch vor der Bundestagswahl stark.
Nach der Wahl könnte es dann in jedem Fall so weit sein. Denn die CDU hat das Gesetz bereits im Blick. In einer Pressemitteilung lässt deren zuständiger Berichterstatter für die Schiene, Michael Donth verlauten: "Hier braucht es dringend eine Änderung."
Über die Gesprächspartnerin
- Prof. Dipl.-Ing. Christa Reicher ist Stadtplanerin und Architektin. Sie ist Inhaberin des Lehrstuhls für Städtebau und Entwerfen sowie Leiterin des Instituts für Städtebau und europäische Urbanistik an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen. Ihre Arbeit konzentriert sich auf Themen wie nachhaltige Stadtentwicklung, Transformation urbaner Räume und den Umgang mit städtischen Herausforderungen, insbesondere im Kontext von Klimawandel, Mobilität und sozialem Wandel.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Christa Reicher
- Anfrage beim Deutschen Städtetag
- Bundesministerium der Justiz: Allgemeines Eisenbahngesetz (AEG) § 23 Freistellung von Bahnbetriebszwecken
- rosenstein-stuttgart.de: Website des Rosensteinquartiers
- staedtetag.de: "Es drohen bei Stadtentwicklungsprojekten Verzögerungen"
- stuttgart.de: OB Nopper möchte Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes noch vor Bundestagswahl
- cducsu.de: Nicht mehr benötigte Bahnflächen wieder zur Nutzung freigeben
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