• Wassermangel und Stromausfälle treiben die Iraner auf die Straßen.
  • Die Regierung unter dem frisch gewählten Präsidenten Ebrahim Raisi lässt die Proteste gewaltsam niederschlagen. Mindestens acht Menschen wurden bereits getötet.
  • Für den Iran-Experten Behrouz Khosrozadeh scheint eine Revolution nicht mehr weit.

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Die Situation in der iranischen Provinz Khuzestan ist dramatisch: Flüsse und Seen sind seit Monaten ausgetrocknet, Vieh verdurstet, Felder sind verdorrt. In Hunderten Ortschaften mangelt es an sauberem Trinkwasser, Stromausfälle sind an der Tagesordrnung. Die Menschen treibt das auf die Straße: Mitte Juli entbrannten die ersten Proteste in der Region.

Dass gerade in Khuzestan die Menschen heute auf die Straße gehen würden, hätte wohl vor wenigen Jahrzehnten niemand geahnt: Noch Ende der 70er Jahre war die Provinz im Südwesten des Landes Heimat von Industrie, Wasserkraftwerken, angesehenen Universitäten und dem größten Luftwaffenstützpunkt des Irans. Mit 17 Flüssen war Khuzestan die wasserreichste Region des Landes.

Warum gehen die Iraner auf die Straße?

Doch das ist Vergangenheit: "Das einstige Aushängeschild des Wohlstands gehört heute zu den ärmsten der 31 Provinzen des Iran", erklärt Khosrozadeh. Die an den Irak angrenzende Provinz, die während des Iran-Irakkrieges in den 80ern als Verteidigungsbollwerk fungierte, sei heute aufgrund einer eklatanten Nicht-Beachtung und von Missmanagement und Korruption ausgeblutet.

"Trotz der großen Industrien liegt die Arbeitslosenquote offiziell bei 25 Prozent, in etlichen Teilen Khuzestans über 45 Prozent", sagt der Experte. Mehr als ein Viertel der Haushalte lebt unter der Armutsgrenze. "Kein Mensch im Iran kann verstehen, warum eine Provinz, die 80 Prozent der Ölreserven und 60 Prozent der Gasreserven des Landes beherbergt, sich in einem derart schäbigen Zustand befindet", meint Khosrozadeh.

Missmanagement der Regierung

Wie auch die Demonstranten macht er die Regierung für die Situation verantwortlich. "Dazu zählt die Entnahme von Wasser aus Khuzestan zur Versorgung des Zentraliran sowie der Bau von unzähligen nicht standardgemäßen Dämmen und Talsperren, die die Bauern in Elend abdriften lassen", erklärt Khosrozadeh. Der Iran und insbesondere Khuzestan seien darüber hinaus durch Versagen der Behörden im Kampf gegen COVID-19 geplagt.

Die Iraner seien es satt, dass sie immer stärker im ökonomischen Elend versinken, die Staatsgelder aber ins Ausland flößen: in Richtung Syrien zu Machthaber Bashar al-Assad, in den Libanon zur Hisbollah und in zahlreiche irannahestehende Milizen in der Region.

"Hinzu kommen die erdrückenden politischen Repressalien, deren Hauptprotagonisten der frisch 'gewählte' Präsident Ebrahim Raisi und sein Nachfolger Gholamhossein Mohseni-Ejei als Justizchef sind", ergänzt Khosrozadeh.

Wie reagiert der Staat auf die Proteste in Khuzestan?

Der Staat reagiert einmal mehr mit Härte auf die Proteste: Zwar werden im staatlichen Fernsehen Lösungen versprochen, vor Ort setzen Sicherheitskräfte aber massive Gewalt ein. "Die Mullahs schickten keine Wassertanker und Lebensmittel, sondern ihre skrupellose Gewaltmaschinerie und kappten das Internet in Khuzestan", weiß der Experte.

Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtet über das gewaltsame Vorgehen. "Seit dem Ausbruch der Proteste haben die Sicherheitskräfte in sieben verschiedenen Städten mindestens acht Demonstrierende und Passantinnen und Passanten, darunter einen Teenager, getötet", schreibt die Organisation auf ihrer Website. Neben Gummigeschossen und Tränengas komme auch scharfe Munition zum Einsatz.

Warum reagiert die Regierung so hart?

Warum die Regierung mit solcher Härte vorgeht, ist für den Experten offensichtlich. "Im Reich der Mullahs ist die Situation so, dass jedes Ereignis, besonders ökonomische Engpässe, Auslöser von landesweiten Protesten werden kann", erklärt Khosrozadeh. Im November 2019 hätte die Erhöhung des Benzinpreises Proteste entfacht, nun seien es Wasserknappheit und Stromausfälle.

"Die Demonstrationen werden sehr schnell zu politischen Protesten mit radikalen Slogans gegen das Regime, wobei diese das Potential haben, sich sehr schnell auszubreiten", ist sich Khosrozadeh sicher. Das andauernde Leid und der Zorn sitze tief.

Präsident im Juni gewählt

Präsident Ebrahim Raisi, der im Juni gewählt wurde, macht derweil ausländische Verschwörer - an deren Spitze die USA und Israel - sowie ihre iranischen Handlanger für die Ausweitung der Proteste verantwortlich.

"Während das Volk in Elend versunken ist, träumen die Mullahs immer noch von der Atombombe, betreiben die Ausweitung des Raketenarsenals und wollen ihre regionalen Abenteuer nicht aufgeben, alles kostspielige Projekte", meint Khosrozadeh.

Werden sich die Proteste ausweiten?

Der Zorn der Iraner richte sich deshalb gegen das gesamte "bis auf die Knochen korrupte und tyrannische System der Islamischen Republik", betont Khosrozadeh. Seit 2017 habe jeder Protest sofort zu Slogans gegen Ayatollah Khamenei und das System als Ganzes geführt.

Auf andere Teile des Landes wie Teheran, Täbris, Isfahan, Kermanschah und Bushehr haben die Proteste längst übergegriffen, Banner politischer Führungspersonen brennen dabei, Demonstranten skandieren mit lauten Rufen wie "Solidarität mit Khuzestans, Solidarität", "Tod Khamenei" oder Farzad Frisats "Unser Zorn ist stärker als Eure Macht".

"Im Iran riecht es nach einer Revolution, wenngleich nicht jetzt oder kurzfristig", meint Khosrozadeh. Woran es aber noch mangelt: "Irans Proteste sind derzeit führungslos und entspringen eher der Spontaneität", meint der Experte. Doch die Solidarität unter den Iranern gegen das Regime sei immer entschlossener geworden. "Die Angst gegen die gewaltbereiteste und skrupelloseste Unterdrückungsmaschinerie der Welt sinkt rasant", sagt der Experte.

Iran: Wie unterscheiden sich die Proteste zu 2017 und 2019?

Die Iraner gehen nicht zum ersten Mal auf die Straße: Landesweite Proteste aufgrund wirtschaftlicher Probleme begannen schon 2017 in Maschhad, die Massenproteste im Jahr 2019 waren dann so schwer wie seit Jahrzehnten nicht.

Doch Khosrozadeh sieht einen Unterschied zu den damaligen Protesten: "Diesmal mischt sich auch die wohlhabende Mittelschicht ein. Anfang der Woche haben mehr als 1.200 Künstler die Proteste der Bevölkerung von Khuzestan unterstützt", erinnert Khosrozadeh. Auch mehrere prominente Sportler hätten sich zu Wort gemeldet.

Es sei noch zu früh, von einer Revolution oder dem Sturz der Mullahs zu sprechen, aber der Abstand zwischen den landesweiten Protesten werde immer kleiner. "Dazwischen haben Protestaktionen nie aufgehört", erinnert Khosrozadeh. Anders als nach der "Grünen Bewegung" im Jahr 2009: "Es herrschte fast zehn Jahre relative Ruhe", sagt Khosrozadeh. In den letzten vier Jahren habe es aber vier große Proteste gegeben.

Appell an Europa

Er appelliert auch an die Europäer: "Europa muss seine Iranpolitik revidieren", ist sich Khosrozadeh sicher. Derzeit herrsche eine Politik des Schmusekurses mit Teheran. Die Europäer hätten auf vermeintliche Reformer gesetzt, in der Hoffnung, der Iran würde in die internationale Gemeinschaft zurückkehren und neu integriert werden.

"Es hat sich als völlig falsch erwiesen und dabei haben einige prominente deutsche Nahostwissenschaftler als Berater der Bundesregierung Mitschuld", kritisiert Khosrozadeh. Er findet harte Worte: "Die Tage der Islamischen Republik sind gezählt. Das ist gut für den Iran, den Nahen Osten und für die Welt."

Über den Experten: Dr. Behrouz Khosrozadeh ist Politologe iranischer Herkunft und Lehrbeauftragter am Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen. Er hat als einer von 246 Länderexperten am Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung mitgewirkt. Zuletzt hat er mit Mandy Lüssenhop und Savanh Smith das Buch "Iran: Der Destabilisator - 41 Jahre Islamische Republik, wie lange noch?" herausgebracht.

Verwendete Quellen:

  • Amnesty International: Iran: Sicherheitskräfte schlagen Proteste in Khuzestan mit Waffengewalt nieder. 23.Juli 2021:
  • Interview Dr. Behrouz Khosrozadeh
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