Boris Johnsons Kurs während der Corona-Pandemie wird massiv kritisiert. Vor einer Untersuchungskommission räumt der Ex-Premier nun Fehler ein und entschuldigt sich. Seine Verteidigung: Niemand sei auf die Pandemie vorbereitet gewesen. Kommt er damit durch?

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Die gute Nachricht für Boris Johnson: Ein offizielles Urteil über seine von vielen als desaströs empfundene Corona-Politik wird es nicht geben. Doch als angenehm dürfte der britische Ex-Premierminister die stundenlange Befragung vor der unabhängigen Untersuchungskommission nicht empfunden haben.

Mit bohrenden Fragen treibt Anwalt Hugo Keith den 59-Jährigen vor sich her. Wieso zögerte er mit dem ersten Lockdown? Hat er wichtige Sitzungen verpasst, weil er lieber an einer Shakespeare-Biografie schrieb, wie sein damaliger Chefberater Dominic Cummings nahelegte?

Johnsons Aussage am Mittwoch erinnert viele Menschen in Großbritannien noch einmal an die Stimmung des ersten Pandemie-Jahres 2020. Zu spät habe Johnsons Regierung damals reagiert, zu zögerlich und zu erratisch - so lauten die Vorwürfe, die auf den konservativen Politiker einprasseln. Er wirkt konzentriert, seine blonden Haare sind weniger verwuschelt als sonst.

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Angehörige kaufen Johnson Reue nicht ab

Inhaltlich weiter helfen Johnsons Antworten aber kaum. Ja, er habe rückblickend Fehler gemacht. Ja, er habe die Gefahr zu spät erkannt. Dass er Corona-Patienten die Hand geschüttelt hat? Hätte er wohl besser nicht gemacht, er habe die Menschen aber ermutigen wollen.

Was Johnson letztlich sagt: Niemand war vorbereitet auf das, was kam. Er habe stets die Vorschläge seiner wissenschaftlichen Berater befolgt, es habe sich um eine Ausnahmesituation gehandelt. Immer wieder sagt er, er könne sich nicht genau erinnern.

Gleich zu Beginn entschuldigt sich der 59-Jährige ausführlich für das immense Leid der Menschen. Als er später über den Frühling 2020 spricht, als er vorübergehend selbst auf der Intensivstation betreut werden musste, scheinen ihm sogar die Tränen zu kommen.

Doch Angehörige der Opfer nehmen ihm die Reue nicht ab. Vier Zuhörerinnen werden des Saals verwiesen: Sie waren aufgesprungen und hatten Plakate hochgehalten. "Die Toten können Deine Entschuldigungen nicht hören", steht dort. Eine persönliche Begegnung kommt nicht zustande: Johnson trifft schon Stunden vor der Befragung ein, es ist noch dunkel. Medien vermuten, er habe Demonstranten vermeiden wollen.

Kritik an Johnson: Der falsche Mann für die Pandemie

Seit Wochen befragt die "Covid-19 Inquiry", die Johnson noch als Premier selbst ins Leben gerufen hatte, unter Vorsitz der früheren Richterin Heather Hallett hochkarätige Zeugen. Ehemalige Minister sagten ebenso aus wie die wissenschaftlichen Ratgeber der Regierung oder auch Johnsons Ex-Chefberater Cummings.

Der galt einst als "graue Eminenz", aber ist seinem früheren Vorgesetzten längst in herzlicher Abneigung verbunden - und ließ kein gutes Haar an Johnson. Der Ex-Regierungschef sei wie ein herum eiernder Einkaufswagen: Er neige dazu, sich ständig zu wenden und die Meinung zu ändern.

Doch auch andere Zeugenaussagen gaben kein vorteilhaftes Bild ab. Johnsons Ex-Kommunikationschef Lee Cain etwa sagte, die Pandemie sei die "falsche Krise" für Johnsons "Fähigkeiten"; er warf ihm Zaudern und Verzögern vor. Ex-Gesundheitsminister Sajid Javid sagte, Cummings sei der eigentliche Premierminister gewesen - nur nicht dem Titel nach.

Der frühere wissenschaftliche Chefberater Patrick Vallance gab an, Johnson sei von Forschungsdaten verwirrt gewesen. Angeblich fragte er einmal ernsthaft, ob man das Coronavirus nicht stoppen könne, indem man sich mit einem speziellen Fön in die Nase blase.

Pikante WhatsApp-Nachrichten veröffentlicht

Bekannt wurden auch explosive WhatsApp-Nachrichten. Darin schrieb der oberste Regierungsbeamte Simon Case etwa über Johnson: "Regieren ist eigentlich gar nicht so schwer, aber dieser Typ macht es wirklich unmöglich." Sein Urteil: "Ich habe noch nie eine Gruppe von Menschen gesehen, die weniger gut dafür geeignet sind, ein Land zu regieren."

Der Inhalt ist teils so drastisch, dass die übertragenden Fernsehsender dauerhaft eine Warnung einblenden: "möglicherweise beleidigende Ausdrücke". Cummings etwa beschimpfte einmal das Kabinett als "nutzlose verdammte Schweine". Und das liegt noch am unteren Rang der Beleidigungen. Die Chats deuteten auf eine Kultur der Hinterlist und Verachtung im Regierungssitz hin, kommentierte der Sender Sky News.

Befragung von Johnson geht weiter

Johnson tut die Kritik äußerlich gelassen ab. Alle hätten unter Stress gestanden und nur das Beste gewollt. Da sei man kritischer und deutlicher. Auch Debatten unter der früheren Premierministerin Margaret Thatcher seien gewiss "ziemlich saftig" gewesen. Das sei viel besser, als wenn nur ehrerbietige Menschen um ihn gewesen wären.

Aber auch einige von Johnsons Kommentaren dürften Fragen hervorrufen. So soll der damalige Premier im Herbst 2020 gesagt haben, lieber würde er "die Leichen sich stapeln lassen", als einen neuen Lockdown zu verkünden - was er bald darauf doch tat. Laut Ex-Berater Vallance sagte Johnson ein andermal, "Corona ist die Weise, wie die Natur mit alten Menschen umgeht". Sie sollten doch ihr Schicksal akzeptieren.

Fragen dazu sind im späteren Verlauf der Befragung zu erwarten, insgesamt sind zwei Tage für Johnsons Aussage angesetzt. Vor allem Angehörige der 227.000 Menschen, die laut Sterbeurkunden im Vereinigten Königreich an Covid-19 starben, werden genau hinhören. "Ein Land wird zuschauen und warten: auf Kontrolle, Rechenschaftspflicht und Antworten", kommentierte die BBC. (dpa/thp)

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