- Etwa jeder hundertste Student in Deutschland ist Mitglied in einer Burschenschaft, Landsmannschaft oder Verbindung.
- Leon Enrique trat aus Neugier einer katholischen Studentenverbindung bei, später bewarb sich der 24-Jährige auch bei mehreren rechtsextremen Burschenschaften.
- Was diese nicht wussten: Enrique ist schwarz.
Ich habe in Jena studiert. Dort wurde nicht nur vor mehr als 200 Jahren die erste Burschenschaft in Deutschland gegründet, sondern nach wie vor gehören Studierende, die ein Band tragen, zum normalen Stadtbild. Die Mehrheit der Studierenden hat aber keinerlei Bezugspunkte zu Burschenschaften. Warum bist du einer Verbindung beigetreten?
Leon Enrique: Ich fand es immer faszinierend und spannend. Diese Welt ist wie eine Parallelgesellschaft, in der die Zeit stehen geblieben ist.
Warum "Parallelgesellschaft"?
Korporierte, sprich Mitglieder einer Studentenverbindung, hängen sehr viel mit anderen Korporierten herum. Auch abseits der eigenen Veranstaltungen schaut man mit seiner Verbindung zusammen Filme, spielt Brettspiele und feiert. Wenn man dann mit anderen Leuten rumhängt, sind das auch oft Korporierte, nur eben aus anderen Verbindungen. Es gibt eigene Begriffe, eine eigene Sprache. Und man passt den Kleidungsstil an: Wachsjacke, Chinos und Segelschuhe. Deswegen erkennt man Korporierte sofort auf der Straße. Man fügt sich dieser Szene einfach, wie man es auch aus anderen Szenen kennt.
Springen wir nochmal an den Anfang. Wie begann alles bei dir?
In meiner Heimatstadt Würzburg habe ich öfter Leute mit Band oder Mütze gesehen, die durch die Straßen ziehen. Man hört nicht viel von denen – und wenn, dann eher Negatives. Da habe ich mir gedacht, das möchte ich mal erleben, diese Welt möchte ich kennenlernen. Ich bin für mein Studium in eine Stadt in Niedersachsen gezogen. Ich habe mir ein paar Verbindungen herausgesucht, kontaktiert und einige von ihnen besucht. Ich habe mich dann für die entschieden, mit denen ich mich am besten verstanden habe: eine katholische Studentenverbindung. Ich bin dann auch sofort in ihr Haus gezogen.
"Als Erstes kommt die Verbindung, als Zweites das Studium"
In vielen Unistädten ist es so, dass die Studentenverbindungen mit preiswerten Zimmern locken. Wie wichtig ist dieser Faktor?
Sehr wichtig! Denn die Studentenverbindungen selbst sind nicht mehr so relevant wie noch vor 50 oder 100 Jahren. Deren Häuser und die dortigen Zimmer sind heutzutage deren wichtigstes Kapital. Da wird dann gesagt: "Hey, du bekommst hier ein supertolles Zimmer mit 20 Quadratmetern in Toplage für 150 Euro." Auf dem freien Markt würde das mindestens dreimal so viel kosten. Das ist natürlich ein großer Anreiz! Daneben gibt es aber viele junge Leute, deren Väter und Großväter bereits in der Verbindung waren. Für die ist ein Beitritt normal – er wird sogar erwartet. Und es gibt Verbindungen, in denen sich einzelne Studiengänge stärker hervortun und beispielsweise Praktikumsplätze verteilt werden.
Du hast vier Monate im Verbindungshaus gelebt, ehe du ausgezogen bist, weil es dir zu viel und zu stressig wurde – gerade was den Alkoholkonsum angeht. Wie kann ich mir als Außenstehender so eine typische Woche vorstellen?
In der Woche gibt es mehrere Pflichtveranstaltungen, zum Beispiel sogenannte Convente. Das kann man sich wie Vereinssitzungen vorstellen, in denen alles Mögliche besprochen wird. Da muss man natürlich anwesend sein. Dazu gibt es Lieder- und Kneip-Abende, an denen getrunken wird. Ab und zu wird noch gebummelt, das ist das rituelle um die Häuser ziehen und andere Verbindungen besuchen. Mit denen wird natürlich auch getrunken. Vier bis fünf Tage in der Woche war ich auf jeden Fall abends eingespannt.
Und dazu kommt noch das Studium …
Genau! Gleich am Anfang wird gesagt: "Als Erstes kommt die Verbindung, als Zweites das Studium und dann kommt der ganze Rest." Die Prioritäten werden also klar gesetzt, alles andere hat man hinten anzustellen.
"Wie Freundschaft auf Kommando"
Wie wichtig ist der Zusammenhalt in der Gruppe?
Der ist das A und O, sowohl innerhalb der eigenen Verbindung als auch in der Korporierten-Szene. Es ist so ein bisschen wie Freundschaft auf Kommando. Aber das kann auch was Gutes sein. Gerade am Anfang fand ich es gar nicht so schlecht: Ich komme in eine neue Stadt und hab' direkt zwanzig Leute um mich herum, die mit mir rumhängen, mir alles zeigen und feiern. Zugleich wird aber von einem erwartet, dass man sich dort auch einfügt. Viele Korporierte, mit denen ich zu tun hatte, kamen eher vom Land. Die waren dieses Kampftrinken schon von der Feuerwehr, dem Schützenverein oder Dorffesten gewöhnt. Auf das Saufen wurde ich ein bisschen konditioniert. Ich war sogar mit Elan dabei zu lernen, wie man am besten möglichst viel Bier in sich hineinpresst. Presssaufen nennt sich das, teils wird aus großen, mehrere Biere fassenden Karaffen getrunken – das ist eine ganz übliche Veranstaltung. Da ist es ganz normal und akzeptiert, wenn man mehrmals am Abend das Bier wieder auskotzt. Dann geht eben wieder ein neues rein.
Auf Instagram schilderst du einen dieser Saufabende: "Die Stimmung ist gereizt. Mein Magen auch. Der Geruch von Erbrochenem zieht mir in die Nase. Vor uns stehen 30 Liter Bier. (...) Wir sind hier, um die Ehre unserer Studentenverbindung zu verteidigen." Das klingt alles andere als spaßig, im Gegenteil sogar gesundheitsgefährdend.
Das war ein Abend, an dem wir einen ausgestopften Fuchs, der uns von einer anderen Verbindung geklaut worden war, "austrinken" mussten. Wir bekamen also drei Kästen Bier vorgesetzt, die wir exen mussten, um unseren Fuchs zurückzubekommen. Wir waren ein paar Leute, doch niemand von uns hatte an dem Abend Lust, zu trinken. Alle waren schlecht gelaunt, Runde um Runde haben wir dieses Bier in uns reingeext, wir haben gekotzt. Es war nur eklig. Als ein Bundesbruder gesagt hat "ich kann nicht mehr, ich habe morgen eine Prüfung", wurde er von einem anderen Bundesbruder niedergemacht.
"Das N-Wort musste ich mir immer wieder anhören"
Du bist Sprecher von Black Lives Matter in Hannover. Musstest du dich deswegen verteidigen?
Ich musste mir schon was anhören. Ein Bundesbruder sagte mir, dass er auf die Black-Lives-Matter-Demonstration mit schwarz angemaltem Gesicht gehen würde. Er fand dieses rassistische Blackfacing irre witzig. Oft ist es aber nicht so explizit rassistisch oder rechtsextrem. Vorgeblich ist alles scherzhaft gemeint.
Was wurde dir da so entgegen geworfen?
Das N-Wort musste ich mir immer wieder anhören, auch über den "Scheiß Ramadan" wurde geflucht. Und dann gab es einen Burschenschafter, der fragte, wo ich und meine Eltern herkommen. Als ich meinte, aus der Dominikanischen Republik, antwortete er: "Na, immerhin besser als Afrika." Dazu kam immer wieder ein bisschen Kaiserreich-Romantik: Die Leute scherzten darüber, dass sie Urlaub in Deutsch-Südwestafrika machten.
Es gibt einige Burschenschaften, die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft werden. Bünde, die mal mehr, mal weniger offen einen völkischen Nationalismus vertreten.
Ja, es gibt Bünde, die verlangen quasi einen "Ariernachweis". Das heißt, ihnen reicht die deutsche Staatsbürgerschaft nicht aus. Um beizutreten, muss man nachweisen, dass die eigenen Vorfahren seit mehreren Jahrzehnten, besser noch Jahrhunderten in Deutschland leben. Von offizieller Seite wird das natürlich bestritten, auf dem Papier gibt es das nicht. Es gab also nur eine Möglichkeit, das objektiv herauszufinden ...
Du hast dich bei mehreren dezidiert rechtsextremen Burschenschaften beworben. Wie lief das ab?
Richtig, ich habe mich bei sechs Bünden in ganz Deutschland beworben, davon sind vier Mitglied im offen rechten Dachverband der Deutschen Burschenschaft. Ich habe die Bünde über WG-gesucht kontaktiert oder direkt dort angerufen, nach einem freien Zimmer und der Möglichkeit gefragt, sich das alles mal anzuschauen. Ich habe dabei auch angemerkt, dass ich schon einmal in einer Verbindung war. Ich glaube, das war wichtig, um direkt ein Vertrauen zu schaffen. Die Burschenschaften wussten nicht, wie ich ausschaue. Aber die wussten, dass ich schon inkorporiert war. Ich war dann bei Veranstaltungen, beim Stammtisch oder beim Grillabend dabei. Aber klar: Erst als ich dort vor der Tür stand und klingelte, haben die realisiert, dass ich schwarz bin.
"Wir würden auch keine Asiaten aufnehmen"
Wie haben sie reagiert?
Bei einem sehr extremen Fall hatte ich mich kaum in die Küche zu den anderen Burschen gesetzt, als mir gesagt wurde: "Wir können Sie nicht nehmen, wir brauchen auch keine weiteren Ausführungen machen." Bei einer anderen Burschenschaft hieß es: "Auch wenn es jetzt sehr direkt klingt, Sie können bei uns leider kein Mitglied werden. Wir würden jetzt zum Beispiel auch keine Asiaten aufnehmen." Dann hieß es, dass es keine Vorgabe vom Dachverband gebe, aber sie würden das halt so streng auslegen. Das Gespräch war dann direkt vorbei.
Wie hat sich das angefühlt?
Ganz seltsam. Es hat auch keinen Unterschied gemacht, dass ich schon Erfahrung mit Verbindungen hatte.
Gab es Vorfälle, wo dir direkt und unverblümt gesagt wurde, dass deine Hautfarbe das Problem ist?
Ja, mehrmals. Es gab einen Fall bei einem Grillabend einer Verbindung. Ich hatte mich mit den Leuten eigentlich super verstanden, wir hatten nette Gespräche geführt. Es war ein witziger Abend, um Politik war es eigentlich gar nicht gegangen. Doch ein paar Tage später bekam ich die Nachricht: "Du passt hier nicht rein." In einem anderen Fall wurde mir gesagt, dass sie mich "natürlich nicht" aufnehmen könnten. "Und das ist auch gut so."
"Vor dem Besuch hatte ich auf jeden Fall Angst"
Was passierte dann?
Ich habe das Gespräch nicht abgebrochen, sondern gesagt: "Okay, jetzt bin ich heute Abend euer Gast." Zusammen saßen wir dann noch zwei Stunden im Keller, haben getrunken und uns unterhalten. Und da sind dann reihenweise rechtsextreme Äußerungen gefallen. Einer der Burschenschafter hat stolz von seiner Zeit in einem Ausbildungslager der Identitären Bewegung und seinem Treffen mit Martin Sellner erzählt. Andere meinten völlig offen, dass sie sich politisch bei der AfD, Pegida oder sogar dem III. Weg zu Hause fühlen. Ich selbst habe mich natürlich auch konservativ gegeben, sonst wäre ich sofort rausgeflogen.
Hattest du Angst? Schließlich warst du ja ganz auf dich allein gestellt.
Vor dem Besuch bei einigen Bünden hatte ich auf jeden Fall Angst. Aber als ich dann einmal drin war, wurde mir klar, dass die mich jetzt nicht verprügeln werden. Ich kannte ja die Gepflogenheiten: Im schlimmsten Fall schmeißen die mich raus. Die Bünde haben trotz allem auch einen Ruf zu verlieren. So gab es im vergangenen September einen antisemitischen Vorfall bei einer Heidelberger Burschenschaft. Sie schlugen einen Gast jüdischer Herkunft mit Gürteln und bewarfen ihn mit Münzen. Bei der Verbindung hat sich anschließend die komplette Aktivitas aufgelöst, alle studierenden Mitglieder wurden also rausgeworfen.
Hast du während deiner Zeit jemand anderen kennengelernt, der auch schwarz war?
Ja, das hat mich schon überrascht. Vor allem in den katholischen Bünden gab es einige schwarze Leute, das ist da auch nicht verpönt. Es gibt sogar eine Verbindung in der Deutschen Burschenschaft, die Schwarze aufnimmt. Die haben gesagt: "Ja, unser gesamter Dachverband ist ins politische Extrem gerückt. Aber wir sind einer der letzten liberal-konservativen Bünde." Diese Burschenschaft wird nun regelmäßig von Verbindungsveranstaltungen anderer Bünde ausgeschlossen. Nur aus dem Grund, weil sie auch "Nicht-Bio-Deutsche" aufnehmen.
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