Im Interview spricht der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig über Maßnahmen, die man ergreifen kann, um in Zukunft den Missbrauch einzudämmen. Trotzdem merkt er an: "Hohe Strafen lösen kein Problem."
Der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig fordert im Interview mit unserer Redaktion eine bessere Qualifizierung der Polizei, um den sexuellen Missbrauch von Kindern besser verfolgen zu können. Strafen allein verhinderten keine neuen Fälle. Denn die Gerichte ließen sich von den Tätern oftmals an der Nase herumführen.
Nach den Missbrauchsfällen von Lügde, Bergisch Gladbach und Münster wird in der Politik der Ruf nach Strafverschärfungen laut. So forderte der Generalsekretär der CDU, Paul Ziemiak, Kindesmissbrauch in jedem Fall strafrechtlich vom Vergehen zum Verbrechen hochzustufen. Teilen Sie seine Ansicht?
Johannes-Wilhelm Rörig: Strafverschärfungen bei sexuellem Missbrauch und sogenannter Kinderpornografie sind wichtig und gut. Es ist zum Beispiel gut, dass Manipulationen am Geschlechtsorgan des Kindes, beispielsweise das Berühren von Penis oder unbekleideter Scheide, als Verbrechen eingestuft werden.
Es ist auch gut, dass die Herstellung und der Vertrieb von sogenannter Kinderpornografie, also der Darstellung schwersten sexuellen Missbrauchs und insbesondere der gewerbsmäßige oder bandenmäßige Handel damit, zum Verbrechen werden.
Ich sage Ihnen aber auch: Mit dem Strafrecht alleine gewinnen wir den Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen nicht. Da sind noch viele andere Aktivitäten erforderlich. Zum Beispiel Aufklärung, Sensibilisierung, Forschung und Prävention. Wir brauchen Hilfsangebote und konsequente Ermittlungen.
"Müssen darüber diskutieren, wie man mit Grenzfällen umgeht"
Wenn der sexuelle Missbrauch künftig kein Vergehen mehr sein kann, würde auch ein Zungenkuss zwischen einem 16-Jährigen und einer 13-Jährigen mit Freiheitsstrafe bestraft. Ist das überzogen?
Wir müssen darüber diskutieren, wie man mit Grenzfällen umgeht, die nach dem Strafrecht sexueller Missbrauch sind, die aber keinesfalls mit einer Mindeststrafe von einem Jahr geahndet werden sollen.
Das ist beispielsweise der angesprochene Zungenkuss oder auch das einmalige Berühren der bekleideten Brust oder wenn einem Kind einmalig ein Porno vorgespielt wird. Das sind noch nicht die Kategorien, in denen man mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bestrafen darf. Deshalb finde ich es wichtig, dass die Justizministerin zum Dialog eingeladen hat.
In vielen Fällen würde es ja schon reichen, wenn der Strafrahmen ausgeschöpft würde. Dann wären zum Beispiel Verurteilungen mit Sicherheitsverwahrung möglich. In der Realität passiert das selten.
Ich glaube nicht, dass hohe Strafen alleine irgendein Problem lösen. Die Täter und Täterinnen fürchten vor allem das Entdeckungsrisiko, und das lässt sich nur mit besseren Ermittlungen erhöhen, nicht mit massiveren Strafen. Ich fordere deshalb besser qualifizierte Polizisten, die mit schärferen Ermittlungsinstrumenten und besserer Technik ausgestattet werden.
In Münster wurde der Polizei die Arbeit ja teilweise schon abgenommen. Immer wieder hatte es Hinweise auf die Taten gegeben. Die Behörden haben sie ignoriert. So ein Behördenversagen lässt sich auch nicht vor Gericht heilen.
Ich gebe Ihnen recht: Wenn die Behörden und Institutionen, die für die Sicherung des Kindeswohls zuständig sind, nicht optimal zusammenarbeiten, oder wenn die Fachkräfte dort überlastet sind, zu viele Fälle gleichzeitig bearbeiten, und dadurch den einzelnen Hinweisen nicht genau nachgehen können, dann haben wir ein Problem.
Man muss natürlich auch sehen, dass sexueller Missbrauch schwer zu erkennen ist, oft noch viel schwerer als die körperliche Misshandlung oder Vernachlässigung von Kindern. Missbrauchstäter sind Meister der Täuschung und Manipulation, sie führen oftmals erfahrene Familienrichter an der Nase herum. Sie zu enttarnen, ist schwierig.
"Signale, die Kinder aussenden, werden oftmals nicht erkannt"
Studien zeigen, dass Kinder im Durchschnitt sieben Erwachsenen von ihrer Not berichten müssen, bis ihnen einer glaubt. Das lässt sich nicht mit Gesetzen ändern.
Das ist eines der ganz großen Probleme. Wir haben leider die Situation, dass die Signale, die Kinder aussenden, oftmals nicht erkannt werden. Das liegt oft an fehlender Sensibilität und spezifischem Fachwissen von Jugendämtern, Familiengerichten und der Polizei. Und natürlich am fehlenden Kenntnisstand zu sexuellem Missbrauch bei den Bürgern.
Wir Erwachsenen müssen deshalb lernen, ohne Scham über sexuellen Missbrauch an Kindern zu sprechen. Die gesamte Gesellschaft muss wissen, wie man Missbrauch erkennen kann, was bei einem Verdacht zu tun ist und welche lebenslangen Folgen sexuelle Übergriffe für Kinder haben können.
Ihr Vorschlag?
Ich fordere schon seit langem für Deutschland eine auf Dauer angelegte Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne. Bundesfamilienministerin Giffey hat nun zugesagt, dass die Bundesregierung die dafür notwendigen Gelder jetzt endlich zur Verfügung stellt.
Angenommen das Geld fließt: Sollen Behördenleiter dann in Wochenendseminaren lernen, wie sie mit Kindesmissbrauch korrekt umgehen?
Bei den Behörden müssen jetzt zumindest schnelle Qualifizierungsmaßnahmen stattfinden. Meine Forderung ist, dass in allen Landkreisen und kreisfreien Städten Bestands- und Defizitanalysen durchgeführt werden, dass geschaut wird, wie die Personalausstattung ist und wie Fortbildungen angeboten werden können. Das muss man jetzt kontrollieren und dann nachsteuern.
Sexuellen Missbrauch gibt es nicht nur auf illegalen Websites. Auch über Facebook, Instagram oder Snapchat vertreiben überwiegend junge Täter Kinderpornografie. Sind Sie mit diesen Unternehmen im Gespräch? Stellen sie sich ihrer Verantwortung?
Wir sind zum Teil miteinander im Gespräch. Die Familienministerin legt gerade eine Novelle zum Jugendmedienschutz auf, bei der es konkret um die Verantwortung der Betreiber geht.
Internetanbieter und soziale Medien müssen den Jugendschutz im Netz auch mit Blick auf die sexuelle Gewalt verbessern. Außerdem bin ich froh, dass dem Bundestag jetzt eine weitere Novelle des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes vorliegt, die die Anbieter nicht nur zum Löschen verpflichtet, sondern auch dazu, illegale Aktivitäten automatisch dem Bundeskriminalamt zu melden.
Kinderpornografie wird nicht nur von Pädophilen verbreitet. Die aktuellen Ermittlungserfolge zeigen, dass es häufig auch Minderjährige sind, die Missbrauchsvideos verbreiten. Ist das ein überraschendes Phänomen für Sie?
Als ich das erste Mal davon gehört habe, dass über Social Media oder WhatsApp sogenannte Kinderpornos ausgetauscht werden und diese von Jugendlichen auch noch mit Musik und Emojis ausgeschmückt werden, ja, da war ich schon überrascht.
Inzwischen weiß ich, dass wir dringend medienpädagogische Nachsteuerung in den Schulen brauchen. Der Unrechtsgehalt solcher Handlungen muss im Unterricht altersgerecht vermittelt werden.
Nach Corona "wird es vermutlich eine Welle geben"
In der Coronakrise hatten viele Kinder nicht die Möglichkeit, mit Vertrauenspersonen wie Lehrern, Kindergärtnern oder Fußballtrainern über mögliche Missbrauchshandlungen zu sprechen. Hat Corona alle Bemühungen für den Kinderschutz zurückgeworfen?
Kinder hatten in der Phase des Lockdowns nicht die üblichen Fluchtmöglichkeiten in Schule oder Freizeit, es gab wenig soziale Kontrolle, wenige Einrichtungen hatten die Möglichkeit, Kinder zu sehen.
Jetzt melden Beratungsstellen, wie beispielsweise die medizinische Kinderschutzhotline, einen erhöhten Beratungsbedarf. Und ich denke, es wird leider noch viele Berichte von sexuellen Übergriffen im familiären Bereich geben.
Das wird einige Zeit dauern, weil die Kinder erst wieder Vertrauen schöpfen müssen, aber dann wird es vermutlich eine Welle geben.
Zahlreiche Täter, die wegen des Besitzes von Kinderpornografie vorbestraft sind, dürften weiterhin mit einem Kind im Haushalt leben. Ist das gerecht?
Das ist einer der ganz heiklen Punkte im Zusammenspiel von Familiengerichten und Jugendämtern. Wir brauchen hier mehr Kontrolle solcher Auflagen und Gebote.
Die Familiengerichte sollten in diesen Fällen stärker als bisher Annäherungsverbote und Umgangsverbote aussprechen und dabei von der Jugendhilfe selbstbewusst unterstützt werden.
Wenn Sie selbst von sexueller Gewalt betroffen sind, wenden Sie sich bitte an das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch 0800 22 55 530 (Deutschland), die Beratungsstelle für misshandelte und sexuell missbrauchte Frauen, Mädchen und Kinder (Tamar) 01 334 0437 (Österreich) beziehungsweise die Opferhilfe bei sexueller Gewalt (Lantana) 031 313 14 00 (Schweiz).
Wenn Sie einen Verdacht oder gar Kenntnis von sexueller Gewalt gegen Dritte haben, wenden Sie sich bitte direkt an jede Polizeidienststelle.
Falls Sie bei sich oder anderen pädophile Neigungen festgestellt haben, wenden Sie sich bitte an das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden".
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