Der Fall des Islamisten Sami A. hinterlässt tiefe Spuren in Deutschland. Die ranghöchste Richterin in Nordrhein-Westfalen sorgt sich um die Zusammenarbeit von Justiz und Behörden. Ob und wann der Tunesier wirklich zurückkommt, ist völlig offen.
Nach dem Urteil im Fall des zu Unrecht nach Tunesien abgeschobenen Islamisten Sami A. lässt die Kritik der Richter des nordrhein-westfälischen Oberlandesgericht an den Behörden aufhorchen: Sie hätten bei der Abschiebung mit "halben Wahrheiten" agiert und so bei den ursprünglich zuständigen Richtern am Verwaltungsgericht Gelsenkirchen einen falschen Eindruck erweckt.
Sami A. wurde laut Gericht zu Unrecht abgeschoben
Der von den Sicherheitsbehörden als islamistischer Gefährder eingestufte Sami A. war am 13. Juli nach Tunesien abgeschoben worden. Dabei hatte das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen eine Abschiebung am 12. Juli noch untersagt.
Die Richter hatten Sorge, dass Sami A. in Tunesien gefoltert werden könnte. Der Beschluss wurde der zuständigen Behörde zwar erst zugestellt, als Sami A. am Morgen danach bereits im Flugzeug nach Tunesien saß - trotzdem sei die Abschiebung nicht abgebrochen worden, kritisierten die Richter.
Nun hat das OLG letztinstanzlich entschieden, dass die Abschiebung tatsächlich rechtswidrig war. Die deutschen Behörden müssen den 42-Jährigen nun nach Deutschland zurückholen.
"Grenzen des Rechtsstaates ausgetestet"
"Hier wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaates ausgetestet", sagte die Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts, Ricarda Brandts, der Deutschen Presse-Agentur.
"Dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen wurden Informationen bewusst vorenthalten." So hätten die Behörden verhindern wollen, dass die Justiz rechtzeitig ein Abschiebeverbot verhängen konnte. "Der Fall des Sami A. wirft Fragen zu Demokratie und Rechtsstaat - insbesondere zu Gewaltenteilung und effektivem Rechtsschutz - auf."
Das bleibe nicht ohne Folgen. Bislang seien Gerichte und Behörden "grundsätzlich mit Respekt vor der Gewaltenteilung" vertrauensvoll miteinander umgegangen, sagte die Gerichtspräsidentin. So hätten die Behörden etwa Stillhaltezusage abgegeben - also Garantien, eine Abschiebung bis zu einer Entscheidung der Richter nicht umzusetzen.
"Nach der Erfahrung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen würde ich den Kollegen nun raten, sich auf diese Praxis vorerst nicht mehr in jedem Fall zu verlassen", sagte Brandts.
Wolfgang Kubicki greift Seehofer an
NRW-Innenminister Herbert Reul kritisierte hingegen das Urteil. "Die Unabhängigkeit von Gerichten ist ein hohes Gut. Aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen", sagte der CDU-Politiker der "Rheinischen Post". "Ich zweifle, ob das bei diesem Beschluss der Fall ist." Wenn die Bürger Gerichtsentscheidungen nicht mehr verstehen, "ist das Wasser auf die Mühlen der Extremen".
Der stellvertretende FDP-Vorsitzende
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) - und damit der Innenminister - habe es bis heute versäumt, die vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen geforderte Verbalnote herbeizuschaffen, "wonach garantiert wird, dass Sami A. in tunesischen Gefängnissen nicht gefoltert wird", sagte er der dpa.
"Die Tatsache, dass das OVG Münster bestätigt hat, dass die Abschiebung rechtswidrig war und Sami A. nach Deutschland zurückgeholt werden muss, ist menschlich ein Tragödie, weil es für viele Beteiligte sinnvoller wäre, er bliebe in Tunesien. Juristisch ist es aber konsequent und nachvollziehbar", sagte Kubicki weiter.
Auch er sorgt sich, dass die AfD aus dem Fall Sami A. Profit schlagen könnte. "Das kann wieder Wasser auf die Mühlen der AfD sein, aber nur weil die demokratischen Institutionen sich in diesem Fall falsch verhalten haben."
Kehrt Sami A. tatsächlich nach Deutschland zurück?
Trotz des Urteils ist längst nicht klar, ob und wann Sami A. nach Deutschland zurückkehren wird.
Denn: Der 42-Jährige wird trotz des Urteils nicht geholt, sondern müsse von sich aus nach Deutschland zurückreisen, sagte ein Sprecher der Stadt Bochum.
Das Auswärtige Amt müsse Sami A. ein Visum für die Einreise ausstellen. "Wir als Stadt geben der Anwältin von Sami A. jetzt eine Kostenzusage für den Rückflug", sagte Sprecher Thomas Sprenger. Mehr könne die Stadt nicht tun.
Das Problem: In Tunesien läuft ein Verfahren gegen Sami A., der deswegen derzeit keinen Pass hat und daher auch nicht ausreisen kann.
Die tunesischen Behörden reagierten auf den Gerichtsbeschluss aus Deutschland verhalten, es ist nicht klar, ob sie den islamistischen Gefährder doch ausreisen lassen. (cai/dpa)
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