Seit Wochen demonstriert Hongkongs Bevölkerung gegen ein Gesetzesvorhaben der Regierung – fast zwei Millionen Menschen sollen am vergangenen Sonntag auf den Straßen gewesen sein. Sie wollen verhindern, dass Hongkongs Staatsbürger zukünftig nach China ausgeliefert werden können. Eine Expertin sagt: Die Hongkonger haben das Gefühl, am Abgrund zu stehen.
Ein Staat – zwei Systeme: Mit diesem Versprechen hatte die Volksrepublik China 1997 die schrittweise Eingliederung Hongkongs in den chinesischen Staat eingeleitet. Noch nicht einmal die Hälfte der Übergangszeit ist verstrichen, da stehen die Zeichen auf Sturm.
Doch wovor fürchten sich die Menschen genau? Unsere Redaktion sprach darüber mit Katja Levy, Professorin am Seminar für China-Studien der Freien Universität Berlin.
Frau Levy, die komplizierte Geschichte Hongkongs spielt mit bei den derzeitigen Protesten gegen China. Was ist an Hongkong so anders?
Katja Levy: Besonders ist an Hongkong derzeit vor allem eines: Die Bevölkerung hat das Gefühl, sie steht am Abgrund – in weniger als 30 Jahren wird Hongkong seinen relativ freien Status verlieren.
Die Entwicklung bis zur derzeitigen Situation hält schon einige Zeit an …
Die Uhr läuft seit 1997. Damals wurde Hongkong aus seiner Situation als britische Kronkolonie entlassen und an China zurückgegeben. Vereinbart wurde eine Übergangszeit von 50 Jahren, in denen Hongkong viele seiner Rechte behalten sollte.
Eine Parallele zum Protest gegen den Klimawandel
Die endgültige Übergabe an China erfolgt im Jahr 2047 – das sind noch 28 Jahre und scheint deshalb noch nicht so bedrohlich.
Das sehen die jungen Leute in Hongkong anders. In 30 Jahren stehen sie noch mitten im Leben. Ich sehe da eine deutliche Parallele zu den jungen Menschen in Europa, die sich wegen des Klimawandels gegen die vorherrschende Politik auflehnen.
Die Jungen bei uns sagen: Wenn der Klimawandel kommt, leben viele der heutigen Politiker nicht mehr, wir aber müssen es ausbaden.
Und so sieht man das auch in Hongkong. Aber natürlich geht es nicht nur der Jugend so – mittlerweile merkt sogar die dortige Wirtschaft, dass die politische Entwicklung in eine bedrohliche Richtung geht.
Was wird denn befürchtet?
Die Proteste richten sich gegen das neue Auslieferungsgesetz, das "extradition law", das es deutlich erleichtern soll, angeklagte Bürger Hongkongs nach China auszuliefern. Die Wirtschaft stört sich an den Implikationen: China macht deutlich, dass es nicht bis 2047 wartet, sondern schon jetzt immer mehr Einfluss nehmen will. Das Auslieferungsgesetz wäre ein Eingriff in das Verspechen, Hongkong bis 2047 unverändert zu lassen. Der Bruch dieses Versprechens berührt die gesamte Gesellschaft.
Noch bei den Demonstrationen 2014 sah das ganz anders aus. Damals war es offenkundig, dass die Wirtschaft kein Interesse an Unruhen hat. Mittlerweile hat sich aber etwas geändert: Auch die Wirtschaft zeigt Solidarität. Man hört Berichte, dass die Demonstranten von den Geschäftsleuten der Stadt unterstützt werden.
Hat sich das Verhältnis zwischen den beiden Ländern erst unter dem chinesischen Staatspräsidenten Xi stark verändert?
Xi ist seit 2013 Staatspräsident, aber das Verhältnis zwischen China und Hongkong hat sich gleich nach Beginn der Übergabe 1997 zu verändern begonnen. Die Grenze ist durchlässiger geworden – heute sind viel mehr Festland-Chinesen in Hongkong als vor der Öffnung. Aber in Xis Amtszeit sind wesentliche Eingriffe ins Wahlrecht und ins Rechtssystem versucht worden.
Parteimitglieder werden anders behandelt als Normalbürger
In China sind nach Angaben der Organisation Human Rights Watch "Freiheitsrechte wie die Versammlungs-, Vereinigungs-, Religions- und Reisefreiheit stark eingeschränkt". Was droht Ausgelieferten dort?
Die Rechtssicherheit in China ist zwar besser geworden als in den 1980er-Jahren – aber sie ist nicht verlässlich. Schlimm ist dort, dass man nicht weiß, was einem passiert. Parteimitglieder werden anders behandelt und anders bestraft als Normalbürger. Verschleppungen stehen nicht im Gesetz, kommen aber vor.
In Hongkong bedeuten sieben Jahre Gefängnis genau das: sieben Jahre Gefängnis, nicht mehr und nicht weniger. In China ist das alles nicht so sicher. Dem Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo wurde im Gefängnis offensichtlich medizinische Versorgung verweigert – er starb 2017 zwei Wochen nach seiner Entlassung im Alter von 61 Jahren. Etwas Ähnliches halte ich in Hongkong nicht für möglich.
Die Köpfe hinter den Demonstrationen von 2014, wie mein Kollege, Soziologieprofessor Chan Kin-Man, sitzen seit diesem April für fast eineinhalb Jahre in Hongkong im Gefängnis. Wenn das neue Gesetz doch kommt, wäre es denkbar, dass ihnen dann ebenfalls die Auslieferung und viel längere Haftstrafen auf dem Festland drohen.
Die Hongkonger treten für universelle Rechte ein
Es gab in den vergangenen Jahren ja bereits Entführungen aus Hongkong – China soll kritische Buchhändler verschleppt haben.
Und es gab Geständnisse im Fernsehen. Auch das ist in den chinesischen Gesetzen nicht offiziell vorgesehen, geschieht aber trotzdem. Und man weiß nicht, wie die Geständnisse zustande gekommen sind, ob Folter oder Drohungen dahinterstecken.
Viele scheinen, wie sie sagen, um ihre Zukunft zu fürchten. Ergreifen manche Menschen auch schon die Flucht?
In der Tat registriere ich in meinem persönlichen und wissenschaftlichen Umfeld in China, dass nahezu alle Familien, die es sich irgendwie leisten können, ihre Kinder im Ausland studieren lassen. Das hat etwas mit dem extrem kompetitiven Bildungssystem in der Volksrepublik zu tun, aber vor allem auch damit, den Kindern und Familien Möglichkeiten zu verschaffen, außerhalb von China arbeiten und leben zu können. In Hongkong dürfte dieser Trend auch zunehmen.
Was in Hongkong auf dem Spiel zu stehen scheint, sind typisch westliche Werte – es geht um politische und persönliche Freiheiten. Kann man die Protestmärsche als eine Verteidigung unserer Werte gegen die Diktatur der Chinesen sehen?
Ich denke, den Hongkongern geht es um ihre ureigenen Interessen. Aber die Rechte, für die sie eintreten, sind universell.
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