Mehr als jeder vierte der in Deutschland lebenden Menschen hat einen Migrationshintergrund. In den etablierten Medien aber finden Migranten selten Gehör und kaum auf sie zugeschnittene Angebote. Die Journalistin Nalan Sipar will diese Lücke füllen, unter anderem mit Deutschlands erstem migrantischen Polit-Talk. Als Deutsch-Türkin kenne sie die Themen, sagt sie – und das Gefühl, nicht dazuzugehören.

Ein Porträt
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie-Christine Sandler sowie ggf. von Expertinnen oder Experten. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Sache mit der Pyramide beschäftigt Nalan Sipar noch immer. Dabei ist es über 20 Jahre her, dass eine Lehrerin auf der Hauptschule in Bielefeld sie fragte, wo in der Gesellschaft sie sich sähe, wäre diese eine Pyramide. Sipar war damals seit ein oder zwei Jahren in Deutschland. Sie setze ihr Kreuz an der Spitze. "Mein Vater war in der Türkei Lehrer, das ist dort ein super angesehener Beruf."

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Sie schüttelt den Kopf über ihr jugendliches Ich. "Heute sehe ich mich nicht mal in diesem Dreieck. Es ist eher, als gäbe es drumherum noch verschiedene Kreise, und da bin ich irgendwo."

Sipar erzählt die Sache mit der Pyramide in einem Berliner Co-Working-Space, wo sie häufig arbeitet. Moderne Räume, viele junge Menschen, Startup-Atmosphäre. Augenscheinlich hat die 40-Jährige geschafft, was sich Deutschland von einer Migrantin erhofft.

Sie lernte schnell Deutsch, machte Abitur, studierte Politik, ließ sich bei der Deutschen Welle zur Journalistin ausbilden. Sie hat für verschiedene öffentlich-rechtliche Sender gearbeitet, unter anderem für Deutschlandfunk und WDR, war freie Mitarbeiterin beim "Spiegel". Eine Bilderbuchkarriere? Schon. Doch Sipar fühlte sich oft mehr wie ein zwischen deutschen Klassikern verstecktes Schmuddelheft.

Journalisten mit Migrationshintergrund sind rar

"Je höher ich gegangen bin, auch in der Berufswelt, desto mehr habe ich gespürt, dass ich nicht wirklich dazugehöre", sagt sie. Die Hauptschul-Lehrerin prophezeite ihr beim Wechsel aufs Gymnasium, sie werde den Abschluss eh nicht schaffen. Später pinnte sie zwar zur Entschuldigung und als Motivation für andere Schüler Sipars Abi-Zeugnis ans schwarze Brett.

Trotzdem prägte die Lehrerin bei Sipar dieses ungute Gefühl, nicht dazuzugehören. Genau wie der Kollege, der eines ihrer Videoformate ungestraft "Tittenshow" nannte.

Aber auch der Herausgeber einer Fachzeitschrift, der sie unter einem Post auf LinkedIn jüngst unwirsch auf ein falsch geschriebenes Wort hinwies – offensichtlich ein Tippfehler, hatte sie es doch im gleichen Beitrag auch richtig geschrieben. "Frau, jung, muslimisch gelesen, da ist man ein leichtes Opfer", sagt Sipar. Oft sei die Diskriminierung aber auch subtil und schwer zu fassen. Blicke, skeptische Fragen, unterschätzt werden.

Journalistinnen und Journalisten mit Migrationshintergrund sind in deutschen Medienhäusern rar. Die wenigen Erhebungen zu diesem Thema kommen auf ein bis fünf Prozent – im Vergleich zu fast 30 Prozent in der Gesamtbevölkerung. Entsprechend selten findet die Perspektive von Zugewanderten und ihren Nachkommen Ausdruck.

Erfolgsgeschichten werden kaum erzählt, Wissenschaftler mit entsprechenden Lebensläufen unterdurchschnittlich oft befragt. Oft geht es um Eingewanderte und Geflüchtete hingegen im Zusammenhang mit Gewalttaten. Häufig wird nur über sie statt mit ihnen gesprochen. Die Risiken und Kosten von Migration stehen im Vordergrund. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse der Hochschule Macromedia zur Fernseh- und Zeitungsberichterstattung von 2019.

Kluft vergrößerte sich in der Pandemie

Sipar hat für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk an verschiedenen Formaten gearbeitet, die sich an Migranten richten. Sie moderierte "Kelebek" (Schmetterling) auf WDR5, die erste deutsch-türkische Radiosendung für Kinder, und entwickelte für die Deutsche Welle "Im Ring mit Natan", ein Talk auf Facebook in Deutsch und Türkisch.

Dann kam die Corona-Pandemie und die Kluft zwischen Migranten und Medien zeigte sich stärker denn je. Sipar erzählt: "Viele Follower aus der türkischen Community haben mich über Social Media gefragt, ob Alkohol wirklich gegen das Virus hilft und ob es stimmt, dass türkische Gene immun sind. Das hatten sie im türkischen Fernsehen gehört."

Sie improvisierte Aufklärungsvideos auf Türkisch, gesendet aus ihrem Wohnzimmer, verbreitet auf YouTube. Das Interesse war enorm, ihr Kanal wuchs von wenigen Hundert auf mehr als 30.000 Abonnenten.

Einfach mal Kreuzberger zu Wort kommen lassen

Dieser Erfolg brachte zwar kein Geld, aber die Motivation, sich selbstständig zu machen. Unterstützt von Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen arbeitet Sipar seither an der Vision von einem deutsch-türkischen Medium à la ARTE, wie Grünen-Politiker Cem Özdemir es vor Jahren gefordert hat. Sie produziert Inhalte auf Deutsch und Türkisch im Auftrag von Medienhäusern und für ihren Youtube-Kanal.

"Diese Gesellschaft wird einen krassen Umbruch erleben, aber kaum jemand hat das auf dem Schirm."

Nalan Sipar

Es geht um deutsche und türkische Politik, den Klimawandel, Rassismus. Sipar spricht mit Politikern, Wissenschaftlern, Unternehmern – und ganz häufig mit Menschen, die sie in Kreuzberg, ihrem Multi-Kulti-Kiez, auf der Straße trifft. Ihre Follower seien zum einen Menschen, die schlecht Deutsch sprechen, darunter neu Zugewanderte und Gastarbeiter der ersten und zweiten Generation, sagt Sipar, aber auch junge Menschen mit ausländischen Wurzeln.

Gerade auf die Jungen kommt es ihr an. "38 Prozent der Menschen unter 20 Jahren haben einen Migrationshintergrund, 38 Prozent!" sagt Sipar. "Diese 17-, 18-Jährigen, die ich in Kreuzberg kennenlerne, werden in zehn Jahren wichtige Positionen haben. Diese Gesellschaft wird einen krassen Umbruch erleben, aber kaum jemand hat das auf dem Schirm."

Sie erzählt von einem Jugendlichen, mit dem sie bei einer Recherche unter Passanten gesprochen hat. "Auf die Frage nach seinem Bild von der Türkei hat er erstmal runtergerattert, was man im türkischen Staatsfernsehen hört: Die Türkei sei eine Weltmacht, Erdogan (Präsident der Türkei; A. d. Red.) so stark, und so weiter. Ich dachte: krass, wie die Propaganda funktioniert."

Doch kaum war die Kamera aus, wollte er von Sipar wissen, wie sie das sehe. "Da habe ich gemerkt: Er weiß, dass vieles, was er hört, wenn seine Eltern türkisches Fernsehen schauen, nicht stimmt. Aber er hat keine Vertrauensperson, die ihm das erklären könnte." Eine Leerstelle, die sie füllen möchte.

"Maischberger" für Migranten: Polit-Talk startet

Im September geht Sipar für ein Dreivierteljahr an die kalifornische Stanford-University. Im Rahmen eines Stipendiums will sie zur Frage forschen, wie sich die deutsche Medienlandschaft diverser gestalten lässt.

Davor aber startet sie noch einen Polit-Talk, ein "migrantisches Maischberger", wie sie sagt. In der ersten Folge, die ab 26. August auf YouTube zu sehen ist, geht es um die Frage, warum Deutschtürken AfD wählen. Es diskutieren die Politiker Orkan Özdemir (SPD) und Elif Eralp (Linke) mit Ex-AfD-Mitglied André Yorulmaz, Unternehmerin Emitis Pohl und Özgür Özvatan, Co-Leiter der Abteilung Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik der Humboldt-Universität Berlin.

An ihrem 40. Geburtstag, sagt Sipar, habe sie sich einmal mehr vorgenommen, sich von Vorurteilen nicht aufhalten zu lassen und keine Energie zu verschwenden an Menschen und Gedanken, die sie einschränken. Dazu gehöre auch die Sache mit der Pyramide.

Verwendete Quellen

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