• Im April wählen die Ungarn ein neues Parlament.
  • Viktor Orbáns Partei "Fidesz" könnte zum vierten Mal in Folge die Regierung stellen.
  • Ein breites Bündnis der Opposition hält dagegen. Doch faire Wahlen sind unter Orbán nur mit Abstrichen möglich.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Frank Heindl sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Acht Millionen Wahlberechtigte entscheiden am 3. April in 106 Wahlkreisen darüber, welche 199 Abgeordnete in den folgenden vier Jahren die ungarische Politik bestimmen. Es könnte eine historische Weichenstellung werden. "Es geht um alles oder nichts", sagt der Politikwissenschaftler András Rácz, "denn es geht um Orbán oder nicht Orbán".

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Seit zwölf Jahren ist der heute 58-jährige Viktor Orbán Ministerpräsident der Magyaren, regiert mit seiner Partei "Fidesz" das Land und hat ihm seinen Stempel aufgedrückt. Schon ein Jahr, nachdem er 2010 zum ersten Mal zum Regierungschef gewählt wurde, ließ er die Verfassung und das Wahlrecht ändern.

Seither erhält Ungarn im Demokratie-Index des britischen "Economist" jährlich schlechtere Werte. Und im Korruptionsindex der Organisation "Transparency International", liegt das Land mittlerweile auf Platz 73 – zwischen Ghana und dem Senegal. Kurz gesagt: Mit der Demokratie geht es bergab, mit der Korruption dagegen steil bergauf.

Wahlumfragen sehen eine Mehrheit für Orbán

Für große Teile der ungarischen Bevölkerung scheinen solche Betrachtungen eher unwichtig zu sein – die meisten Wählerumfragen der vergangenen Wochen zeigen eine knappe (3 Prozent) bis deutliche (10 Prozent) Mehrheit für Fidesz. Das Rennen sei trotzdem offen, sagt der Politologe Rácz im Gespräch mit unserem Portal: "Die meisten Umfragen sprechen von etwa 30 Prozent bisher unentschiedener Wähler", betont er. Gleichzeitig erwarten alle Analysen eine sehr hohe Wahlbeteiligung. Deshalb, so Rácz, habe die Opposition immer noch "ein sehr großes Potenzial".

Dass das Rennen noch nicht gelaufen ist, scheinen auch Orbán und seine Partei zu wissen. Nicht umsonst haben sie in den vergangenen Wochen und Monaten teure Wahlgeschenke verteilt: In Anbetracht der hohen Inflation (sie bewegt sich auf zehn Prozent zu), ließ Orbán die Lebensmittelpreise bis vier Wochen nach der Wahl einfrieren, Löhne und Pensionen wurden erhöht. Angehörige des Militärs, so Rácz, bekämen sechs Monatsgehälter zusätzlich, für Familien mit Kindern gebe es Steuervergünstigungen.

Von fairen Wahlen mag Rácz nicht sprechen. Der Politologe, der vom Homeoffice in Budapest aus für die Deutsche Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP) in Berlin arbeitet, weist darauf hin, dass die Änderungen von Verfassung und Wahlrecht Fidesz von vornherein begünstigen. Schon 2018 sprachen Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) von Parlamentswahlen, die "noch frei, aber nicht fair" gewesen seien.

2018 waren die Wahlen in Ungarn "noch frei, aber nicht fair"

"Nicht fair" waren die Wahlen auch deshalb, weil, wie Rácz betont, "die Fidesz eine perfekte Mediendominanz hat". Alle nationalen Radiosender seien unter Fidesz-Kontrolle, die Staatsmedien "zu hundert Prozent Propagandainstrumente von Orbán und Fidesz", nur ein nationaler Fernsehsender gehöre nicht Orbáns Lager an: "Wer in Ungarn unabhängige Informationen sucht, muss große Eigeninitiative aufbringen."

Kein Wunder, dass Orbán auf die Unterstützung eines etwa zwei Millionen Menschen umfassenden fanatischen Anhängerlagers zurückgreifen kann, dessen Mitglieder, so der Politologe, vor allem der Landbevölkerung angehören: "Menschen mit niedrigem Bildungsniveau und wenig Informationen."

Orbáns Gegner haben sich auf diese Verhältnisse mit einem historischen Bündnis eingestellt: Sechs Oppositionsparteien von rechts über liberal und grün bis links arbeiten zusammen und haben sich auf Péter Márki-Zay als Spitzenkandidat geeinigt. Der 49-jährige Wirtschaftswissenschaftler hat längere Zeit in Kanada gelebt und ist Bürgermeister der Stadt Hódmezövásárhely. Er hatte die südungarische ehemalige Fidesz-Hochburg mit einem ähnlich breiten Bündnis erobert.

Ein weiteres Plus für der Opposition: Die OSZE will bei den Aprilwahlen mit deutlich mehr Beobachtern vor Ort sein als noch vor vier Jahren. Und das Oppositionsbündnis will dafür sorgen, dass vor jedem Wahllokal zwei Beobachter postiert sind. "Auch unter unfairen Außenbedingungen könnte es so immerhin zu einem formal fairen Ablauf der Wahlen kommen", hofft Rácz.

Wenig Programm, aber viele Aufgaben

Programmatisch allerdings tritt die Opposition nicht deutlich in Erscheinung – die Breite des Bündnisses lässt keine allzu verbindlichen Ziele zu. Das ist aus Sicht von Rácz nicht unbedingt ein Nachteil, denn "auch Fidesz hat kein Wahlprogramm". Signifikantes werde sich bei einem Wahlsieg der Opposition vor allem in der Außenpolitik ändern: Weil Viktor Orbán sich mit wachsenden Problemen in der EU konfrontiert sehe, habe er sich in den vergangenen Jahren immer mehr Russland und China angenähert. "Das würde die Opposition sehr schnell ändern", ist sich Rácz sicher.

Doch auch in der Innenpolitik gäbe es genug zu tun: Ungarn ist nach Bulgarien das zweitärmste Mitgliedsland der EU, was die privaten Konsumausgaben betrifft. "Ungarns wirtschaftlicher Abstieg würde unter Orbán anhalten", glaubt Rácz. Deshalb werde die Opposition bei einem Wahlsieg vor allem zwei Ziele verfolgen: Die allgegenwärtige Korruption zu bekämpfen und sich wieder der EU anzunähern, um besseren Zugang zu wirtschaftlichen Hilfen zu bekommen.

Einfach würde das für die Opposition auch dann nicht, wenn sie einen klaren Wahlsieg erringen könnte. Die vielen Fidesz-Anhänger an den Schlüsselstellen in Politik und Wirtschaft würden versuchen, jeden Fortschritt zu bremsen, befürchtet Rácz. Außerdem werde nach einem Wahlsieg der Opposition diese die teuren Wahlgeschenke Viktor Orbáns bezahlen müssen.

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Doch zumindest die Motivation der Orbán-Gegner gibt ihm Hoffnung: "Der Drang zu erfolgreicher Veränderung würde nach einem Sieg der Opposition sehr, sehr stark sein", vermutet er, eine Rückkehr Viktor Orbáns an die Macht dagegen "wäre das Ende jeder Chance". Großer Druck aus dem Orbán-Lager, gewaltige Aufgaben nach einem Wahlsieg und die "enorme Motivation" des Oppositionsbündnisses – Rácz setzt wenige Wochen vor der Wahl Hoffnung in die "momentan" sehr gut funktionierende Kooperation im Oppositionsbündnis.

Über den Experten: Dr. András Rácz ist Senior Fellow im Programm für Sicherheit und Verteidigung bei der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitk (DGAP). Er arbeitet zurzeit im Homeoffice in Budapest.

Verwendete Quellen:

  • Transparency International: Korruptions¬wahrnehmungs-index 2021
  • Transparency International: CPI 2021: Tabellarsiche Rangliste
  • TheEconomist: Democracy Index 2020
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