- Innerhalb kurzer Zeit sind der Ukraine mehrere Schläge gegen russische Infrastruktur auf der Krim gelungen. Russland tut die Vorfälle als "Unfall" ab, Beoabachter rätseln, wie die Ukraine die Schläge bewerkstelligen konnte.
- Kommt jetzt der Wendepunkt im Krieg? Experte Gressel erklärt, warum die Ukraine erst noch bis zum Herbst durchhalten muss und wo der Westen gefragt ist.
Erst ein Drohnenangriff, dann Explosionen auf Militärbasen, schließlich Feuer in einem Munitionsdepot – mehrere ukrainische Angriffe auf der von Russland annektierten Krim schüren Erwartungen eines bevorstehenden militärischen Durchbruchs für Kiew.
"In naher Zukunft wird es entscheidende Ereignisse an allen Fronten geben", kündigte der Sprecher des Militärgeheimdienstes Andrii Jusow am Mittwoch (17. August) an und verwies auf den 24. August – den Unabhängigkeitstag der Ukraine und sechs Monate nach Kriegsbeginn.
Mehrere Tausend Russen sollen von der Krim nach Russland geflüchtet sein, wie ukrainische Medien berichten. Nach den Zwischenfällen wechselte Russland seinen Schwarzmeerflottenchef. Das Ruder in der Hand hat nun Kommandeur Viktor Sokolow.
Beobachter gehen von neuen Langstreckenwaffen als Ursache der Angriffe auf der Krim aus
Konkret waren zunächst vor mehr als einer Woche Kampfflugzeuge bei einer Explosion auf einem Luftwaffenstützpunkt in Saki auf der Krim zerstört worden. Anfang dieser Woche detonierte dann ein Munitionsdepot im Norden der Krim, fast zeitgleich brannte ein Umspannwerk in der Nähe, das Strom für eine Eisenbahnlinie liefert. Es folgte eine Explosion auf einer Militärbasis nahe Simferopol.
Im Kreml sorgen die Angriffe hingegen für Unruhe, denn es ist unklar, wie sie zustande kamen. Eigentlich verfügt die Ukraine über keine Waffensysteme mit einer Reichweite, die aus dem von ihr kontrollierten Gebiet die Krim treffen könnten.
In der Theorie käme der amerikanische Mehrfachraketenwerfer Himars in Frage, doch dafür mangelt es den Ukrainern an den entsprechenden Raketen. Beobachter bringen neben Langstreckenwaffen auch geheime ukrainische Elitetruppen und Saboteure ins Spiel.
Aus Sicht von Militärexperte Gustav Gressel ist es am wahrscheinlichsten, dass eine ballistische Rakete die Luftwaffenbasis bei Saki getroffen hat. Auch er sieht eine Serie von Angriffen. "Nicht alle sind aber nach demselben Muster erfolgt und nicht alle haben dieselben Ziele angegriffen", erinnert er. Der Angriff auf die Luftwaffenbasis Saki sei deutlich schwieriger zu bewerkstelligen gewesen, als der Angriff auf das Munitionsdepot im Norden der Krim.
"Dort wurde Munition an einem Bahnhof oberirdisch gelagert, das war leicht angreifbar", so Gressel. Die Sicherungsmaßnahmen der beiden Ziele seien nicht vergleichbar, eine Luftwaffenbasis sei deutlich besser geschützt.
Gressel: Die Ukrainer haben bereits Sabotageakte durchgeführt
Auch, wenn der Kreml die Zwischenfälle als "Unfall" abtat, es ist relativ eindeutig, dass es sich um gezielte Angriffe der Ukraine handelt. Schläge gegen russische Logistik sind ein bekanntes Muster. Die Eisenbahninfrastruktur steht schon länger im Fokus, weil sie für die russischen Nachschubrouten von essenzieller Bedeutung ist.
"Die Ukrainer haben bereits im Vorfeld durch einen Sabotageakt eine der Eisenbahnbrücken gesprengt, die aus der Krim rausführt", erinnert Gressel. Der Bahnverkehr sei dadurch blockiert gewesen, Munitionszüge hätten herumgestanden. "Das hat die russischen Sicherungsmannschaften eingeschränkt und gute Ziele geboten", ist sich Gressel sicher.
Er beobachtet, dass die Russen ihre Fliegerabwehrstellungen verstärken, um ihre Basen auch außerhalb der Ukraine zu schützen. "Das würden sie nicht machen, wenn sie keine Angst hätten, dass die Ukraine hier weitere Schläge durchführen könnte", analysiert der Experte.
Mit den Angriffen ist Kiew also auch ein psychologischer Erfolg gelungen: Die Russen sind eingeschüchtert. Gleichzeitig leidet ihre Glaubwürdigkeit – Putin hat immer wieder versprochen, Sicherheit auf der Krim zu garantieren. "Das ist nur der Anfang", hatte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak in der vergangenen Woche getwittert.
Sind die Zwischenfälle auf der Krim ein Wendepunkt im Krieg in der Ukraine?
Lassen sich die symbolischen Erfolge auch in militärische Gebietsgewinne ummünzen? Die Rückeroberung der Krim hatte Kiew immer wieder als Kriegsziel ausgelobt und angekündigt, alle feindlich besetzten Gebiete zu befreien.
"Einen Wendepunkt sehe ich noch nicht", sagt Gressel. Dabei stehe die Ukraine unter Druck: "Er müsste aus ukrainischer Sicht möglichst bald kommen, sonst läuft man Gefahr, die Initiative im Krieg zu verlieren und Russland die Geschwindigkeit diktieren zu lassen", fürchtet der Experte.
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Aktuell seien die Ukrainer noch nicht in der Lage für eine große Offensive. "Die Angriffskraft der russischen Kräfte ist noch nicht komplett gebrochen", analysiert er. Nach der Ankündigung einer ukrainischen Großoffensive in Cherson, hätten die Russen zwar starke Kräfte verlegt, aber: "Das hat den militärischen Druck auf die ukrainischen Kräfte im Donbass nur geringfügig reduziert", so Gressel. Die Angriffe der Russen erforderten dort noch immer die Präsenz schwerer ukrainischer Kräfte.
"Solange die Ukraine nicht in der Lage ist, ihre gepanzerten Verbände herauszulösen und an anderer Stelle einzusetzen, sehe ich nur geringe Chancen für eine ukrainische Gegenoffensive etwa im Raum Cherson", sagt der Experte. Zwar hätte sich die Situation bezüglich der Artillerie für die Ukrainer durch die westlichen Waffenlieferungen deutlich verbessert, bei gepanzerten Transportfahrzeugen bestehe aber weiterhin ein großer Mangel.
Experte: "Russlands Probleme werden in den nächsten Wochen größer"
"Die Ukrainer sind deshalb nicht stark genug für eine große Gegenoffensive", so Gressel. Doch Gressel sieht eine Chance. "Den Russen fehlen Fußsoldaten und die Probleme werden in den nächsten Wochen größer." Jede Menge Verträge russischer Soldaten würden im Herbst auslaufen, viele Soldaten dürften ihren Dienst quittieren.
"Bislang haben die Russen ihre Lücken aufgefüllt, indem Menschen in den besetzten Gebieten gezwungen wurden, an der russischen Seite zu kämpfen", erklärt Gressel. Dabei handele es sich aber um eine Einmal-Ressource, der Pool werde nicht mehr größer. "Im Herbst wird die Offensivkraft aufgrund dieses sich immer weiterverstärkenden Infanteriemangels geschwächt", ist sich Gressel sicher. Die Devise für die Ukrainer lautet deshalb vor allem: Durchhalten bis Herbst.
"Die Ukrainer werden versuchen, diesen Zeitraum zu überbrücken, indem sie die Russen ablenken", schätzt Gressel. Die Russen könnten zu Umgruppierungen gezwungen werden, beispielsweise durch die Ankündigung von Offensiven. Auch mit Sabotageakten könne man ablenken. "Die Russen müssen fixiert werden, solange sie noch stark genug für Angriffe sind", bilanziert Gressel. So könne die Ukraine sich Handlungsoptionen für den Herbst schaffen.
Für Erfolge bleibt die Ukraine aber auch dann auf den Westen angewiesen. "Auch das deutsche Kanzleramt ist zu kurzsichtig. Man glaubt eher an ein neues Minsk-Abkommen als an die Möglichkeit eines ukrainischen Sieges", kritisiert Gressel. Es müssten bereits jetzt mehr Kampf- und Transportpanzer geliefert werden, sonst laufe man der militärischen Situation immer weiter hinterher.
"Ein neues Minsker Abkommen wäre nur ein Waffenstillstand, der Russland Zeit gibt, neu aufzurüsten", warnt Gressel. Nur eine deutliche Niederlage Russlands könne Putin abhalten, es erneut zu versuchen. "Und für eine solche Niederlage muss der Westen engagierter unterstützen", sagt Gressel.
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