Nachdem der bekannte ukrainische Soldat und Podcaster Serhii Hnezdilov in der Öffentlichkeit über seine Desertation gesprochen hat, ist in der Ukraine eine Diskussion entfacht. Die einen sehen darin Verrat, die anderen Kritik an den Strukturen der Armee. Denn die Realität der Truppen ist von Erschöpfung und Frustration geprägt. Ein junger Kämpfer berichtet von seinen Ängsten – und seiner möglichen Flucht.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Als Andrij den Wagen sieht, verzieht sich sein Gesicht zu etwas, das ein Lachen sein soll. Er steht auf einem Sandweg in einem Dorf nahe der ukrainischen Frontstadt Kurachowe im Süden der Donezk-Region. Camouflage-Shorts und ein T-Shirt mit dem Totenkopf-Logo der ukrainischen Punk-Band Moscow Death Brigade. Auf seinem mittellang gewachsenen Haarschopf eine Camouflage-Fischermütze.

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Der ukrainische Soldat lebt mit seiner Einheit in einem heruntergekommenen Haus. Die Toilette ist ein Loch mitten auf dem Hof, Brennholz liegt überall verteilt, dazwischen zerdrückte Energy-Drink-Dosen. Zwei junge Katzen laufen um ihn herum. Einen Welpen, den er von seiner Position an der Front eingesammelt hat, will er mitnehmen.

Denn der 25-Jährige verlässt seine Einheit – zu diesem Zeitpunkt heißt es noch für zwei Wochen. Dass er vielleicht nie mehr zurückkommen will, den Gedanken behält er an diesem Tag im September noch für sich.

"Plötzlich bekam ich richtig Panik"

Andrij heißt eigentlich anders. Seinen echten Namen will er nicht veröffentlicht wissen. Zu sensibel ist dieses Thema, denn er ist im Begriff, ein Verbrechen zu begehen. Er ist einer von vielen ukrainischen Soldaten, die entweder desertieren oder es sich zumindest überlegen.

Im Frühling 2023 hatte er sich freiwillig zum Dienst gemeldet, kämpfte zunächst in einer Infanterie-Einheit und später in einer Gruppe, die tödliche Drohnen auf russische Truppen lenkt. Bis kurz vor ihrem Fall kämpfte Andrij in der Stadt Wuhledar.

Als er an einem Tag einen engen Freund sterben sah, konnte er plötzlich nicht mehr, erzählt er. "Ich hatte nie Angst, wenn wir beschossen wurden. Aber plötzlich bekam ich richtig Panik." Er habe viele Kameraden sterben sehen, doch dieser eine Moment habe etwas in ihm ausgelöst.

Eine Militärpsychologin diagnostiziert ihm eine Existenzkrise. Sein Kommandeur bewilligt eine zweiwöchige Rehabilitation in einer psychiatrischen Klinik in der Kiew-Region – weit weg von der Front.

Andrij wird von Freunden abgeholt, die den weiten Weg von der ostukrainischen Stadt Kramatorsk zu ihm gefahren sind. Die Stecke von dort bis zu seiner Unterkunft nahe Kurachowe dauert 1,5 Stunden länger als normal, weil Pokrowsk ins Kreuzfeuer russischer Kriegsanstrengungen geraten ist – und sie die Stadt deshalb in einem großen Bogen umfahren müssen.

Fahnenflucht als Form des Protests

Der junge Soldat schmeißt seinen Rucksack in den Kofferraum und sagt: "Da ist jetzt mein ganzes Leben drin". Als er sich von seinen Kameraden verabschiedet, ruft noch einer hinterher: "Wir sehen uns in Deutschland!" Eine Andeutung auf eine mögliche Fahnenflucht. Die Männer lachen. Doch Andrijs Gesicht zeigt keine Regung. Auf der Fahrt wird er immer stiller.

Der Weg führt vorbei an hochgewachsenen Baumreihen, die eher schlecht als recht vor den im Donbass so üblichen Sandstürmen schützen. Vorbei an kleinen Dörfern, an zerbombten Tankstellen.

Andrij schaut durch das Fenster zu, wie sich die Außenwelt Kilometer für Kilometer in Zivilisation verwandelt. Wie aus einem Frontgebiet die Ahnung von normalem Leben wird – wo der Großteil der Häuser noch steht, und Tankstellen und Geschäfte geöffnet sind. Er zieht pausenlos an seiner Zigarette, seine Augen folgen der vorbeirauschenden Aussicht.

Plötzlich sind Maschinengewehre zu hören. Nicht unüblich in der Donezk-Region, aber in diesem Abstand zur Front auch kein Grund zur Sorge, denn Schießübungsplätze gibt es dort viele. Doch Andrij krallt sich in seinem Sitz fest, schließt die Augen, lehnt sich zurück. Er sagt kein Wort, doch seine Reaktion braucht keine Erklärung.

"Zumindest weiß man im Gefängnis, wann man es wieder verlassen kann."

Serhii Hnezdilov

Andrijs Situation ist vergleichbar mit der des bekannten ukrainischen Soldaten Serhii Hnezdilov. Am 9. Oktober wurde der 24-jährige Soldat und beliebte Podcaster in den Karpaten festgenommen. Der Vorwurf: Desertation.

Seit 2019 ohne Unterbrechung im Einsatz, war Hnezdilov Teil einer Aufklärungseinheit der 56. Brigade und kämpfte an mehreren Fronten im Osten des Landes. Ende September hatte er eine einwöchige Freistellung für eine medizinische Untersuchung erhalten, mit der Erlaubnis, nach Pawlograd zu reisen. Doch anstatt dort zu bleiben, setzte er sich in einen Zug nach Kiew – ohne die Erlaubnis seiner Vorgesetzten. Er verließ den Zug als Deserteur.

Noch bevor er festgenommen wurde, machte Hnezdilov seine Entscheidung, nicht zurückzukehren, öffentlich. Er erklärte: "Zumindest weiß man im Gefängnis, wann man es wieder verlassen kann." Worte die hohe Wellen schlugen, sowohl in der ukrainischen Öffentlichkeit als auch innerhalb der Armee. Während einige seine Handlung als Verrat betrachten, gibt es auch Kameraden, die Verständnis zeigen.

Eine Soldatin, die anonym bleiben will, erklärt auf Anfrage unserer Redaktion: "Ich glaube nicht, dass er ein Verräter ist, AWOL (eine Abkürzung für die englische Bezeichnung für Fahnenflucht, Anm. d. Red.) ist nur ein wirklich großes Problem in der Ukraine, und dies öffentlich zu tun, wird es leider nicht lösen."

Hnezdilovs Verhalten habe ihrer Meinung nach seinem Bataillon eher geschadet als geholfen. Das ukrainische Militärsystem sei lange Zeit nicht auf einen großangelegten Krieg vorbereitet gewesen, eine Reform, die das Grundproblem anpacke, sei absolut notwendig.

Das Grundproblem macht Hnezdilov am 11. Oktober vor Gericht deutlich: "Der Militärdienst und die Verteidigung der Ukraine sind die Pflicht eines jeden Bürgers", erklärt er da. "Aber ohne klare Bedingungen wird er zur Sklaverei." Er sei bereit, zum Dienst zurückzukehren, wenn das Verteidigungsministerium einen Gesetzentwurf mit klaren Bedingungen vorlege. Sollte das nicht passieren, drohte er, andere Maßnahmen zu ergreifen, wie zum Beispiel einen Hungerstreik.

Für seine Desertation drohen Hnezdilov nun bis zu zwölf Jahre Gefängnis.

Immer mehr Ukrainer desertieren

Die Wellen, die Hnezdilovs öffentliche Desertation geschlagen hat, zeigen, dass sein Fall tiefere Probleme im ukrainischen Militär offenlegt. Die ukrainischen Streitkräfte kämpfen nun seit fast drei Jahren ununterbrochen gegen die russische Invasion. Die Soldaten sind zermürbt, ausgelaugt, unterbesetzt.

Ein Kernproblem, das Hnezdilov und viele seiner Kameraden betrifft, ist die fehlende Aussicht auf eine Demobilisierung. Ein Gesetzentwurf, der Soldaten nach 36 Monaten ununterbrochenen Dienstes die Heimkehr ermöglichen sollte, scheiterte im Frühjahr 2024 nach Intervention des ukrainischen Verteidigungsministers Oleksandr Syrsky.

Die "Ukrainska Prawda" zitiert in einem Beitrag eine Quelle im Verteidigungsministerium, die Hnezdilovs öffentliche Fahnenflucht als kontraproduktiv bezeichnet. "Wenn alle Militärs jetzt einen Flashmob organisieren und desertieren, werden wir Kiew wieder vor den Russen verteidigen müssen," hieß es von offizieller Seite. Seit Beginn des Krieges 2022 wurden dem ukrainischen Medium zufolge fast 60.000 Verfahren wegen unerlaubten Verlassens des Dienstortes eingeleitet, und etwa 30.000 Soldaten stehen unter dem Vorwurf der Desertation.

Als sich die Lage auf dem Schlachtfeld zu Beginn dieses Jahres verschlechterte, begannen immer mehr Truppen aufzugeben. Allein in den ersten vier Monaten des Jahres 2024 leiteten Staatsanwälte nach Angaben des ukrainischen Parlaments Strafverfahren gegen fast 19.000 Soldaten ein, die entweder ihren Posten unerlaubt verlassen hatten oder desertierten. Das schreibt der US-amerikanische Sender "CNN" und bezieht sich auf eine Antwort der ukrainischen Regierung.

Mehr als eine Million Ukrainer dienen in den Verteidigungs- und Sicherheitskräften des Landes, wobei diese Zahl alle umfasst, auch Personen, die in Büros weitab von der Front arbeiten.

Im ukrainischen Strafgesetzbuch gibt es zwei Paragrafen, die die Fahnenflucht behandeln. Ein Soldat wird in der Ukraine entweder wegen unerlaubten Verlassens des Dienstortes oder wegen Desertation angeklagt.

Unerlaubtes Entfernen bedeutet, dass der Soldat seinen Dienstort für mehr als drei Tage ohne Erlaubnis verlässt, was mit fünf bis zehn Jahren Haft geahndet wird. Desertation hingegen ist das Verlassen des Dienstes mit der Absicht, nicht zurückzukehren, und zieht eine Strafe von fünf bis zwölf Jahren nach sich.

Dennoch hat die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, kürzlich eine Entkriminalisierung beschlossen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind: Der Soldat stellt sich selbst, will zum Dienst zurückkehren und hat die schriftliche Zustimmung seines Kommandeurs.

"Ich kann ja einfach fliehen, auch wenn es dumm ist"

Ungerechtigkeit zermürbt Soldaten an der Front

Auch Andrij, der Soldat, der in Wuhledar kämpfte, plant seine Flucht – oder zumindest, seine Einheit zu wechseln. Mittlerweile ist er seit einem Monat in der psychiatrischen Klinik. Er habe bisher zwei Gespräche mit einem Psychologen gehabt. "Ansonsten geben sie mir hier nur Beruhigungspillen", berichtet er über den Messenger-Dienst Signal.

Wahrscheinlich, schreibt er, wird er nicht mehr zurückgehen. "Ich werde das selbst entscheiden", sagt er. "Ich kann ja einfach fliehen – auch, wenn das dumm ist." Er wolle sein Land verteidigen, aber unter den derzeitigen Umständen könne er nicht mehr.

Aber was sind diese Umstände? Warum desertieren Soldaten? Die "Ukrainska Prawda" hat dafür mit Militärpsychologen und Soldaten gesprochen. Ein zentrales Motiv sei die Müdigkeit, die sich nach fast drei Jahren Krieg unweigerlich einstellt.

Viele Soldaten fühlen sich demnach ausgelaugt und frustriert, da sie nicht ersetzt werden. Gleichzeitig sehen sie, dass viele wehrfähige Männer in der Heimat ihr Leben wie gewohnt weiterleben, während sie an der Front kämpfen – und sterben. Diese Ungerechtigkeit zermürbt die Soldaten zusätzlich.

Auch die unzureichende Erholung nach Kampfeinsätzen spielt eine Rolle. Manchen Soldaten wurde laut "Ukrainska Prawda" eine Auszeit versprochen, nur um dann direkt in eine neue Kampfsituation geschickt zu werden. Andere werden an Orte gebracht, an denen grundlegende Bedürfnisse wie Schlaf und Wasser fehlen.

Behörden versprechen Verbesserungen

Ein weiterer Grund sind Konflikte zwischen Soldaten und ihren Kommandeuren. Die ukrainische Armee besteht größtenteils aus Menschen, die zuvor Zivilisten waren und oft Schwierigkeiten haben, sich den militärischen Gepflogenheiten anzupassen. Dazu kommt die mangelnde psychologische Unterstützung, da viele Militärpsychologen in der Ukraine nur eine kurze Ausbildung absolviert haben und nicht in der Lage sind, auf die tiefen Traumata der Soldaten adäquat einzugehen.

Ukrainische Militärbehörden wollen eigenen Angaben zufolge die Lage verbessern. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums sagte gegenüber der britischen "Times", dass Demobilisierungsmaßnahmen zu einer Verringerung der Kampffähigkeit führen könnten. Dennoch arbeite man an einer Verbesserung der Rotation, um die psychische Belastung der Soldaten zu lindern.

Doch bisher ist davon wenig zu sehen. Und Andrij glaubt auch nicht daran, dass es wirklich zu Verbesserungen kommt. "Das ganze System ist komplett im Arsch", sagt er.

Dass Serhii Hnezdilovs öffentliche Fahnenflucht die Debatte um die Zustände im Militär neu entfacht hat, deutet Andrij als positives Zeichen. Aber dass es wirklich hilft – daran glaubt er, wie viele seiner Kammeraden, nicht mehr.

Über die Gesprächspartner

  • Andrij ist 25 Jahre alt und seit Frühling 2023 im Militärdienst. Er meldete sich damals freiwillig. Der volle Name ist der Redaktion bekannt, wird aber aus Gründen des Quellenschutzes nicht veröffentlicht. Offizielle Dokumente sowie Video- und Bildmaterial belegen, dass er in Wuhledar gekämpft hat. Zudem ist die Redaktion seit Langem in Kontakt mit dem Soldaten – auch bevor er die Einheit verlassen hat.
  • Auch der Name der anonymen Soldatin ist der Redaktion bekannt. Sie ist 23 Jahre alt, arbeitete bis zum Herbst 2023 als Freiwillige und evakuierte verletzte Soldaten von der Front. Auch sie meldete sich später freiwillig zum Dienst.

Verwendete Quellen

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