Das israelische Parlament erwägt, das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA zu verbieten. UNRWA-Chef Philippe Lazzarini sagt dagegen am Mittwoch in Berlin: Die Arbeit müsse weitergehen – bis zu dem Tag, an dem eine Lösung für das palästinensische Volk gefunden ist.
Gaza sei nicht mehr wiederzuerkennen, sagt Philippe Lazzarini. Der Generalkommissar des Palästinenser-Hilfswerks UNRWA berichtet am Mittwoch in der Bundespressekonferenz von der Situation in dem kleinen Landstrich: Die Kinderlähmung ist zurück, die Versorgung mit Lebensmitteln katastrophal, die öffentliche Ordnung zusammengebrochen. 600.000 Kinder können nicht zur Schule gehen. "Je länger wir damit warten, sie zurück in die Schulen zu bringen, desto mehr Hass wird in der Region gesät", warnt Lazzarini.
Seit einem Jahr befindet sich der Nahe Osten im Ausnahmezustand. Am 7. Oktober 2023 hatte die im Gazastreifen herrschende Hamas Israel überfallen und rund 1.200 Menschen getötet. Die israelische Regierung reagierte mit einem massiven militärischen Vorgehen gegen die Hamas im Gazastreifen. In dem Krieg sind bisher mehr als 40.000 Menschen gestorben.
Auch UNRWA ist mehr als je zuvor unter Druck geraten. Die Arbeit der Organisation steht vor einer ungewissen Zukunft. Auch das ist wohl ein Grund für Lazzarinis Auftritt in Berlin.
Was ist UNRWA?
Seinen Ursprung hat das Hilfswerk im Jahr 1948. Im israelischen Unabhängigkeitskrieg wurden rund 700.000 Palästinenser aus ihren Wohnorten vertrieben. Das israelische Parlament lehnte ihre Rückkehr später ab. Auch viele arabische Nachbarstaaten weigerten sich, die Menschen dauerhaft zu integrieren. Ein Volk war heimatlos.
Im Dezember 1949 gründete die UN-Generalversammlung daher UNRWA: Hinter der komplizierten Abkürzung versteckt sich der Begriff "Hilfs- und Arbeitsagentur der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten". UNRWA betreibt in der Region mehr als 700 Schulen, 230 Kliniken sowie Flüchtlingscamps, vergibt Kredite und humanitäre Hilfe.
Die Organisation war ursprünglich als Übergangslösung gedacht. Doch weil der Nahostkonflikt meilenweit von einer Lösung entfernt ist, besteht sie seit 75 Jahren – und betreut inzwischen 5,9 Millionen Menschen. UNRWA versteht allerdings im Gegensatz zu anderen Organisationen auch die Nachkommen der in den 1940ern vertriebenen Menschen als Flüchtlinge.
Israel erwägt Verbot von UNRWA
Die israelische Regierung und UNRWA stehen sich inzwischen feindlich gegenüber. UNRWA wird immer wieder vorgeworfen, in Schulbüchern Antisemitismus zu vermitteln oder gar zu Gewalt aufzurufen. Das Hilfswerk bestreitet das.
Besonders unter Druck geriet UNRWA nach dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023. Unter den Attentätern sollen laut Recherchen der "New York Times" ein Dutzend UNRWA-Mitarbeiter gewesen sein. Im vergangenen April bescheinigte eine unabhängige Untersuchungsgruppe der UNO dem Hilfswerk mangelnde Neutralität in dem Konflikt.
Lazzarini betont am Mittwoch in Berlin, man nehme die Hinweise der Untersuchungsgruppe sehr ernst und werde Verbesserungen umsetzen. Trotzdem sind die Fronten zwischen ihm und Israel völlig verhärtet. Das israelische Parlament diskutiert gerade darüber, UNRWA als Terrororganisation einzustufen und zu verbieten.
Immer wieder gibt es Diskussionen über die Zukunft von UNRWA. Denn es gibt bereits ein globales UNO-Flüchtlingshilfswerk: das UNHCR. Nur für die palästinensischen Flüchtlinge gibt es eine eigene Agentur.
UNRWA finanziert sich nicht aus dem UNO-Haushalt, sondern aus separaten Spenden. Deutschland hatte seine finanzielle Unterstützung nach dem 7. Oktober 2023 zunächst ausgesetzt, sie im vergangenen April aber wieder aufgenommen: in der Erwartung, dass die UNRWA künftig neutraler agiert.
Verbot wäre aus Sicht von SPD und Grünen katastrophal
Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, sagt dazu unserer Redaktion: "Die Organisation bleibt mittelfristig unersetzbar, denn es existiert keine andere Hilfsorganisation, die über eine annähernd vergleichbare Infrastruktur – insbesondere im Gazastreifen – verfügt."
Falls Israel UNRWA wirklich verbietet, wäre das aus seiner Sicht angesichts des Leids der Zivilbevölkerung ein schwerer Fehler und eine Katastrophe: "Es käme einer Kollektivbestrafung von über zwei Millionen Menschen gleich", so Schmid. "Die Folgen des Gesetzes würden es UNRWA faktisch unmöglich machen, weiterhin rechtssicher im Westjordanland, inklusive Ost-Jerusalem, und Gaza Hilfe zu leisten", warnt er.
Ähnlich äußert sich Boris Mijatovic, Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. "Ein generelles Verbot von UNRWA, auf israelischem Territorium zu operieren, hätte fatale Konsequenzen für die Region", sagt er. Israels Regierung erwägt, das Gelände des UNRWA-Hauptquartiers in Ost-Jerusalem zu beschlagnahmen und es für den Siedlungsbau zu nutzen. Aus Sicht von Mijatovic wäre das "eine gefährliche Missachtung internationaler Vereinbarungen" und gefährde die humanitäre Versorgung vieler Menschen.
Johann Wadephul (CDU): "UNRWA hat jedwede Glaubwürdigkeit verloren"
Gleichwohl hat die UNRWA auch in der deutschen Politik Kritiker. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johann Wadephul, spricht sich dafür aus, nur kurzfristig an einer Zusammenarbeit festzuhalten.
Die Organisation habe "durch ihre mangelnde Abgrenzung zur terroristischen Hamas und das ungeschickte Agieren des Generalkommissars jedwede Glaubwürdigkeit verloren", sagt er unserer Redaktion. Das sei ein Problem für die Palästinenser, aber auch für Israel.
"Langfristig wird man UNRWA auflösen und durch eine neue Organisation ersetzen müssen, die sich nicht auf terrorverdächtige oder terroranfällige Mitarbeiter stützt", sagt Wadephul. Die Bundesregierung müsse sich um eine "alternative humanitäre Organisation in der Region" kümmern und um eine breite Unterstützung dafür werben.
Lazzarini: Lösung für Palästinenser ist noch nicht gelungen
UNRWA-Generalkommissar Lazzarini will dagegen nicht an der eigenen Arbeit rütteln. Sein Hilfswerk habe eine andere Funktion als etwa das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR: Es agiere als eine Art Regierung, biete wichtige öffentliche Dienste für ein heimatloses Volk.
"Die internationale Gemeinschaft hat klargemacht: UNRWA soll bis zu dem Tag bestehen, an dem es eine faire und dauerhafte Lösung für die Palästinenser gibt", sagt er. Auch 75 Jahre nach der Vertreibung sei diese Lösung aber noch nicht gelungen.
Verwendete Quellen
- Pressekonferenz mit Philippe Lazzarini in der Bundespressekonferenz
- Stellungnahmen von Nils Schmid, Johann Wadephul und Boris Mijatovic
- taz.de: Studie zu palästinensischen Schulbüchern: Deutsches Geld schürt Israel-Hass
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