• Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist als völkerrechtswidrig verurteilt worden, doch das Überschreiten roter Linien hat damit kein Ende genommen.
  • Zahlreiche Berichte dokumentieren Kriegsverbrechen im ganzen Land.
  • Konflikt- und Krisenforscherin Belkis Wille erklärt, welchen Regeln das Töten im Krieg unterliegt.

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Die Bilder der Gräueltaten sind noch frisch: Massengräber, Leichen gefesselter Zivilisten mitten auf der Straße, Spuren der Folter und Hinrichtung. Inzwischen steht fest, dass sich in Butscha, einer Stadt nahe der Hauptstadt Kiew, zahlreiche Kriegsverbrechen abgespielt haben.

Laut den Berichten von Überlebenden sollen Angehörige des russischen Militärs Dutzende ukrainische Zivilisten misshandelt, vergewaltigt, erschossen und gequält haben. Sie sprechen von Tränengasgranaten, Beschuss von Fahrzeugen mit der Aufschrift "Kinder" und abgeschnittenen Körperteilen. Dabei ist Butscha nicht der einzige Schauplatz, der im Ukraine-Krieg Tatort für Kriegsverbrechen geworden ist.

Expertin: "Es gibt Regeln für das Töten im Krieg"

"Uns erreichen laufend Berichte mit Vorwürfen von Kriegsverbrechen", sagt Konflikt- und Krisenforscherin Belkis Wille von "Human Rights Watch" (HRW). Der Tod ist in der Ukraine allgegenwärtig: Die USA gehen allein von 75.000 toten und verwundeten russischen Soldaten aus, auch Kiew meldet fünfstellige Verluste seines Militärs.

Die Vereinten Nationen bezifferten die Zahl der getöteten ukrainischen Zivilisten zuletzt mit knapp 5.700, darunter mehr als 350 Kinder. Die Zahl der Verwundeten dürfte bei über 8.000 liegen. Hinter all den Zahlen stecken Menschenleben, zerstörte Existenzen. Doch es gibt einen Unterschied: Mit dem Töten von Zivilisten wurde eine rote Linie überschritten, die das Völkerrecht gezogen hat.

"Es gibt Regeln für das Töten im Krieg", sagt Wille. Diese seien unter anderem in den Genfer Konventionen festgehalten und dienten vor allem dem Schutz der Zivilbevölkerung. Auch Soldaten, die in Gefangenschaft geraten, sollen durch das Völkerrecht geschützt werden. Wer die internationalen Regeln bricht, muss mit einer Verfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof rechnen, auch landeseigene Gerichte können tätig werden.

Zahlreiche Kriegsverbrechen in der Ukraine

Im aktuellen Krieg in der Ukraine wurden bereits einige russische Soldaten zu langjährigen Haftstrafen wegen Mordes an Zivilisten verurteilt. "Es gibt drei grundlegende Prinzipien, auf die man sich international verständigt hat", sagt Expertin Wille. Die Weltgemeinschaft habe erkannt, dass man nicht kurz davor sei, nie wieder Kriege zu führen. "Deshalb trifft man Vereinbarungen, die den Schaden für die Zivilbevölkerung so gering wie möglich halten sollen", erklärt sie.

Zunächst gelte das Prinzip der Unterscheidung. "Soldaten dürfen Zivilisten nicht gezielt töten", erklärt Wille. Man müsse zwischen Kombattanten, also Angehörigen des Militärs sowie Nicht-Kombattanten und Zivilpersonen unterscheiden. Zu den Personen, die gezielt attackiert werden dürfen, können aber auch beispielsweise Milizen und Freiwilligenverbände zählen.

In der Ukraine unterstützen ausländische Kämpfer, die sich in der "International Legion" organisieren, die Streitkräfte. Auch für sie gilt das Völkerrecht, wenn Anhänger beispielsweise in Gefangenschaft geraten. Zivilisten können jedoch zu legitimen Zielen werden, wenn sie ein Gewehr in die Hand nehmen, um auf russische Soldaten zu schießen. Dazu hatte die ukrainische Regierung die Zivilbevölkerung aufgerufen und Schusswaffen ausgegeben.

Es gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit

Beim Beschuss von zivilen Einrichtungen muss der Schaden für die Bevölkerung so gering wie möglich gehalten werden, ein gewisses Maß an Schäden an der zivilen Infrastruktur ist als Kollateralschaden aber völkerrechtlich abgedeckt.

Zudem gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit, der gewahrt werden muss. In Reaktion auf den Tod eines Soldaten darf die gegnerische Partei beispielsweise nicht eine Stadt dem Erdboden gleichmachen. "Das Völkerrecht untersagt auch die Verwendung verbotener Waffen.

Der Schaden muss so gering wie möglich gehalten werden", erklärt Wille. International geächtet sind sogenannte "Antipersonenminen", auch als "Tretminen" bekannt.

Einsatz von verbotenen Waffen wie Tretminen mit verheerenden Schäden

"Sie können nicht zwischen Soldaten und Zivilisten unterscheiden", so die Expertin. Denn die mitunter tödliche Explosion wird durch das Opfer selbst ausgelöst. In einem Umkreis von 16 Metern werden Menschen dann wahllos getötet und verstümmelt.

"Tretminen unterscheiden sich von sogenannten Anti-vehicle-Minen, die gezielt zur Zerstörung von Fahrzeugen eingesetzt werden", sagt Wille. Dieser Typ von Minen hat eine Zündung, die durch Fahrzeuge ausgelöst wird. Über 160 Staaten haben sich weltweit darauf geeinigt, Tretminen weder zu verwenden noch zu produzieren, zu lagern oder weiterzuverkaufen.

Die Ukraine hat die Konvention unterzeichnet, Russland hingegen nicht. Moskau hatte im November 2020 vor der UN-Generalversammlung erklärt, dass es eine "minenfreie Welt unterstützt", Tretminen aber als "wirksames Mittel zur Gewährleistung der Sicherheit der russischen Grenzen" betrachtet.

Mehreren Berichten zufolge soll Russland die geächtete Waffe im Ukraine-Krieg zum Einsatz bringen. Der britische Geheimdienst berichtete von sogenannten Schmetterlingsminen aus alten Sowjet-Beständen. Weil die Waffen über die Jahre marode geworden sein könnten, gelten sie als besonders unberechenbar und schwer zu räumen. Im Afghanistan-Krieg hatten solche Minen verheerenden Schaden angerichtet, als Kinder sie für Spielzeuge hielten.

Russland beschuldigt die Ukraine

Moskau warf London eine gezielte Desinformationskampagne vor und verbreitete selbst Fotos von Schmetterlingsminen, die im Donbass gefunden wurden und von der Ukraine eingesetzt worden sein sollen. Die Ukraine hatte den Vereinten Nationen allerdings bereits im Jahr 2018 mitgeteilt, dass auf der Krim russische Antipersonenminen gefunden worden waren.

In der Nähe von Charkow hatten ukrainische Soldaten außerdem russische Anti-Personenminen des neuen Typs "POM-3" gefunden. Diese modernen Minen sind mit seismischen Sensoren ausgestattet, um sich nähernde Personen zu erkennen und dann Explosionen auszulösen.

"Diese Minen wurden offenbar von Raketen aus speziell konstruierten Bodenabschussvorrichtungen abgefeuert", hatte "Human Rights Watch" mitgeteilt. Der Raketenwerfer soll bereits 2021 bei russischen Militärübungen zum Einsatz gekommen sein. "Die Ukraine verfügt weder über diese Art von Landminen noch über ein entsprechendes Trägersystem", so "Human Rights Watch". Wille sagt deshalb: "Ich halte die Berichte für glaubwürdig, dass Russland Tretminen einsetzt". Auch in Syrien und Libyen wurde der Einsatz dokumentiert.

Plünderungen durch russische Soldaten

Wille selbst war mit einem Team in der Ukraine vor Ort und hat sich ein Bild der Kriegsschauplätze gemacht und mit ihrem Team Geschichten von misshandelten Kriegsgefangenen gehört. Dazu zählen der Einsatz von Elektroschockern, Geiselnahmen in dunklen Kellern, Entzug von Nahrung und Verweigerung von Toilettengängen. "Wir hören auch immer wieder von Plünderungen", berichtet Wille.

Unter bestimmten Umständen sei es Besatzern erlaubt, sich benötigte Verbrauchsgüter wie Nahrung anzueignen – allerdings nicht persönliches Eigentum der Bevölkerung.

Verwendung von verbotener Streumunition

In der Ukraine hat Wille auch Spuren von verbotener Streumunition gefunden, die auch Krankenhäuser und Schulen beschädigte. "Wir haben Belege für den Einsatz von mindestens sechs verschiedenen Typen von Streumunition, die von russischen Streitkräften eingesetzt wurde", sagt Wille.

Die Dokumentation beziehe sich auf vier verschiedene Gebiete – bewohnte Gebiete der Städte Tschernihiw, Charkiw, Mykolaiv und Vuhledar. Auch die ukrainischen Streitkräfte scheinen Streumunition mindestens einmal eingesetzt zu haben. Weder Russland noch die Ukraine haben den Einsatz bestritten.

Über die Expertin: Belkis Wille ist Wissenschaftlerin in der Abteilung Krisen und Konflikte bei Human Rights Watch. Sie studierte Menschenrechte und Jura in Harvard, Essex und London.

Verwendete Quellen:

  • de.statista.com: Ukraine-Krieg: Opfer in der ukrainischen Zivilbevölkerung laut Zählungen der UN
  • zdf.de: Russische Truppen in Ukraine: Wie viele Soldaten sind bisher gestorben?
  • hrw.org: Ukraine: Russland setzt verbotene Tretminen ein
  • treaties.un.org: Convention on the prohibition of the use, stockpiling, production and transfer of anti-personnel mines and on their destruction
  • cat-uxo.com: POM-3 Landmine
  • the-monitor.org: Russian Federation Mine Ban Policy
  • hrw.org: Angriffe mit Streumunition in der Ukraine stoppen
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