Kupjansk brennt, der Krieg tobt und mittendrin kämpfen Freiwillige darum, Haustiere aus verlassenen Häusern zu retten. Hunde, die sich verzweifelt an ihre Besitzer drücken, Menschen, die sich von ihren treuesten Begleitern trennen. Unterdessen rückt die Front immer näher.
Das Schluchzen ist kaum zu hören. Zwischen brennenden Häusern und dem Brüllen eines Automotors ringt eine alte Frau mit ihrem Schäferhund und weint. Das Fauchen und Knacken der Feuer, der Motor, das Rauschen des Windes - all das übertönt, was vor dem blassgelben Mehrfamilienhaus in Kupjansk vor sich geht: Eine Frau trauert, weil sie ihr Haustier nicht weggeben will; ein Hund wehrt sich, denn er hat Angst. Doch die Entscheidung ist gefallen.
Die Frau spricht kein Wort, ihr Gesicht ist schmerzverzerrt, ihre Lippen beben. Tränen vermischen sich mit Ruß der Brände, den der Wind durch die Luft weht. Terra drängt sich dicht an seine Halterin, als suche er Schutz. Für einen kurzen Moment treffen sich ihre Blicke – eine stumme Bitte, ein Abschied.
Sie möchte ihren Hund in Sicherheit wissen, selbst will sie ihr Zuhause aber nicht verlassen. Auch wenn sich die Situation in Kupjansk, ihrer Heimatstadt im Osten der Ukraine, weiter zuspitzt. Die Angriffe werden häufiger, die Brände größer.
Terras Augen sind vor Panik weit aufgerissen. Der Hund atmet schnell, unkontrolliert. Die schwarzen Nackenhaare sind aufgestellt, Speichel tropft von den Lefzen. Mit aller Kraft versucht sich das Tier loszureißen, sich aus dem Halsband zu winden. Doch die kleine Frau mit dem kurzen grauen Haar behält die Oberhand.
Die Freiwilligen der Organisation Nor Dog greifen ein. Sie sind hier, um Terra zu evakuieren. Mit einem großen Toyota Tundra, einem Pick-up. Noel Tock, Svitlana Bachurina und Frederik Guttormsen. Plötzlich geht es ganz schnell. Guttormsen greift das Tier von hinten. "Ich halte die Box", sagt Tock in einem ruhigen Ton. Terra resigniert. Der Wind peitscht, die Frau weint. Und das Tier ist in der Transportbox.
Rauch liegt über der Stadt, frisst sich auch in die Lungen jener, die den Schäferhund in den Pickup laden. Zwanzig Meter entfernt sitzt ein Soldat auf dem Boden, die Knie angewinkelt, die Arme umschlingen die Beine. Er zieht an einer Zigarette. Schaut wortlos auf eine brennende Ruine, etwas, das einmal ein Haus gewesen sein soll.
Gleitbomben und Artillerie lösen Feuer in Kupjansk aus
Kupjansk ist eine Stadt in der Oblast Charkiw. Anfang des Krieges hatten russische Truppen dieses Gebiet überrannt und innerhalb kürzester Zeit eingenommen - auch, weil der damalige Bürgermeister Gennadi Matsegora die Administration schnell an Russland übergeben hatte. Mit einer groß angelegten Gegenoffensive befreite die ukrainische Armee die gesamte Region im Herbst desselben Jahres.
Heute greifen Moskaus Truppen Kupjansk wieder vermehrt mit Artillerie und Gleitbomben an. An der Südflanke dieses Frontgebiets rücken sie fast täglich weiter vor. Auch nordöstlich der Stadt gibt es Bewegung von Seiten Russlands. Innerhalb weniger Monate hat sich das Stadtbild stark verändert.
Viele Häuser wurden zerstört, die Brücken mehrfach angegriffen. Trockenheit und Wind treiben die Brände nach den Angriffen schnell voran, Haus um Haus wird Opfer der Flammen. Auch hier, jenseits des Flusses Oskil. Rund fünf Kilometer von den aktiven Kämpfen entfernt.
Nor Dog evakuiert Tiere, um sie in Sicherheit zu bringen
Noel Tock ist einer der vier Vorstände der Organisation Nor Dog. Schweizer, 43 Jahre alt, hauptberuflich Inhaber einer weltweit tätigen Digitalagentur mit Fokus auf Webdevelopment und Betreuung von Wordpress-Websites. Gegründet wurde Nor Dog von Frederick Guttormsen aus Norwegen, der auch Teil des Vorstandes ist. Hinzu kommen zwei Ukrainer: Hundetrainerin Svitlana Bachurina und Jäger Pavel Khramtsov.
Nor Dog konzentriert sich auf die Evakuierung und die spätere Vermittlung von Haustieren aus den von Kampfhandlungen betroffenen Gebieten. Auch Futterlieferungen bietet die norwegische Organisation an.
Kritik, warum man Tieren und nicht Menschen helfe, gibt es häufig. Und Tock versteht den Ansatz. "Mir ist klar, dass Tiere eine niedrigere Priorität haben", sagt er. "Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass Tiere wie auch Kunst und Kultur, einen sehr großen Teil vom Ganzen ausmachen."
Er nennt es eine Art Ökosystem. Es gebe eben nicht bloß den Menschen darin. Kultur, Geschichte, Wissenschaft, die Tiere, alles, was in der Gesellschaft zusammenkommt, müsse geschützt werden. "Organisationen, die den Menschen helfen, gibt es mittlerweile sehr viele hier im Land - und die sind mit der Zeit sehr professionell geworden."
Jetzt, hier in Kupjansk, liegen noch ein paar Stopps vor der Gruppe. An diesem Tag werden es vier Hunde sein, die Nor Dog aus dem brennenden Wohngebiet evakuiert. Man hatte mit mehr gerechnet.
Etwa fünf Minuten Fahrt. Guttormsen, der Fahrer, schießt mit dem Geländewagen über die brüchigen Straßen. Über Sandwege, die von Hügeln und tiefen Löchern gezeichnet sind. Vorbei an verkohlten Holzbalken, die wie Skelette die Grundrisse von etwas andeuten, das hier einmal stand. Ein beißender Geruch, süßlich scharf, vermischt mit chemischem Stechen. Die Sicht ist getrübt. Dann Vollbremsung. Der Weg, vielleicht drei Meter breit, ist durch einen tiefen Raketenkrater blockiert. Rückwärtsgang. Umweg.
Hund im Hinterhof angekettet - ohne Schutz
Die Gruppe gelangt in eine Straße, in der weder ein Baum, noch ein hohes Gebäude Schutz vor der prallen Sonne und feindlichen Drohnen bieten könnte. Auch hier brennt es. Ein vielleicht 15 Jahre alter Junge steht vor einem Haus, bei dem schon auf den ersten Blick klar wird: Hier ist nichts mehr zu retten. Dennoch versucht das Kind den Brand zu löschen - mit einem Gartenschlauch, aus dem das Wasser eher sickert als fließt.
Stumm starren die Freiwilligen auf die Szene. Kein Wort. Keine Reaktion. Als hätte jemand für einen Moment die Zeit angehalten. Ein schweres Schweigen. Bis eine Frau mit kurzen blonden Haaren und Blumenbluse zu der Gruppe stößt. Keine Regung in ihrem Gesicht. Nur ein starrer Blick und schnelle russische Sätze, die sie herunterrattert. Sie will den Freiwilligen zeigen, wo die nächsten Hunde sind, die evakuiert werden sollen.
Im Hintergrund sind immer wieder entfernte Einschläge zu hören. Wind und Feuer rauschen um die Wette. Die erste Adresse in dieser Straße ist ein leerstehendes Gebäude. Auf einem rostigen Schild am Tor steht auf Ukrainisch "Nekrasova-Straße 26". Die Frau führt Bachurina in den Hinterhof, vorbei an Wellblechzäunen und Schutt. Bachurinas Fäuste sind geballt, umklammern die rote Leine, die sie mitgebracht hat.
Kurz bleibt sie stehen und beobachtet das Bild, das sich hier zeichnet. Am Hintereingang, ohne Unterstand, ohne Wasser oder Futter, ist ein Schäferhund-Mix angekettet. Einen, vielleicht zwei Meter: So viel Bewegung ist dem Tier gestattet. Die Hausbesitzer - offenbar geflohen. Ohne den Hund. Etwas, das viele Menschen nicht nachvollziehen können. Doch die Tierretter haben Verständnis.
"Es gibt viele Gründe, warum die Leute ihre Tiere zurücklassen", erklärt Tock. "Wir kennen die Vorgeschichte nicht, also urteilen wir auch nicht." Er berichtet von einem Erlebnis, als ein Mann in der Stadt Wowtschansk panisch auf die Straße gerannt kam, nachdem sein Nachbarhaus beschossen wurde. "Er hatte nur das bei sich, was er trug", erzählt Tock, "und sprang in das erste Auto, das ihn mitgenommen hat." Kurze Zeit später habe sich der Mann mit Nor Dog in Verbindung gesetzt, damit die Gruppe seinen Hund evakuiert und die beiden wieder vereint.
Ob das auch hier passieren wird? "Solche Happy Ends sind nur sehr selten", sagt Tock. Meistens interessierten sich die Menschen nicht wirklich. "Auch das gehört zur traurigen Wahrheit."
Hunde-Trainerin weiß, wie sie aggressive Hunde lesen muss
Die Frau mit der Blumenbluse führt die Gruppe weiter. Die nächste Adresse ist ebenfalls in der Nekrasova-Straße, nur wenige Häuser weiter. Wieder bringt die Anwohnerin Bachurina in einen Hinterhof. Vorbei an einem zerstörten Unterstand für Brennholz. Davor prangt das Loch eines Granateneinschlags. Kein großes Kaliber, 60 bis 75 Millimeter vielleicht.
Bachurina wird vorgewarnt: Dieser Hund ist aggressiv. Nur ganz kurz ist er zu sehen, bevor er sich in einem kleinen Schuppen versteckt.
Die Hundetrainerin lässt sich nicht einschüchtern. Schritt für Schritt. Langsam, aber mit dem Ziel vor Augen, nähert sie sich dem Schuppen. Der Deutsche Schäferhund bleckt die Zähne, das Knurren ist trotz der Geräuschkulisse des brennenden Stadtviertels deutlich zu hören. Bachurina zögert nicht. Steigt die drei Treppenstufen empor, das Zuzieh-Halsband in der einen, ein Leckerli in der anderen Hand. Kurz scheint alles still.
Dann zieht die Frau mit den rot gefärbten Haaren und der Camouflage-Hose den widerspenstigen Hund aus der dunklen Ecke. Auf dem Weg zum Auto versucht das Tier hin und wieder, Bachurina anzugehen. Doch die lässt sich nicht beeindrucken. "Sie haben Angst", erklärt sie später. "Manche sind dann aggressiv, ich wäre es vielleicht auch."
Zu wissen, wie ein Hund wann reagiert und daraufhin richtig zu handeln - im Umfeld der Organisation sprechen viele von "Svetas Dog Magic". "Viele der Schüler von Pavel und Sveta meinen, dass sie diesbezüglich irgendeine göttliche Macht haben", schildert Tock. "Sie können Hunde in ihren Mikroexpressionen lesen und verstehen." Sowohl Sveta Bachurina als auch Pavel Khramtsov, der bei der heutigen Mission nicht dabei ist, wissen, dass das nicht der Fall ist. Keine Magie, keine Zauberei.
"Sie haben das einfach gelernt, sind durch und durch Hundemenschen", sagt Tock dazu. Er arbeite auch seit Jahren mit Hunden, sehe aber bei weitem nicht das, was sie sehen. Ist der Hund aggressiv? Hat er Angst? Will er sein Territorium beschützen? Bachurina und Khramtsov hätten den Blick dafür. "Und deshalb sind sie unersetzbar."
Straßenhunde zurückgelassen - "Kaum eine Chance, sie zu vermitteln"
Mittlerweile ist der aggressive Schäferhund auf dem Pick-up verladen. Die Anwohnerin will der Gruppe noch einen weiteren Hund zeigen, der in einer anderen Straße lebt. Diesmal wohl ein Straßenhund - ungewöhnlich für Nor Dog. Denn der Fokus liegt auf Haustieren. "Straßenhunde - so hart es klingt - wissen besser, wie sie zurechtkommen", sagt Tock. Bei Haustieren sei das anders. Zudem sei die Chance auf eine erfolgreiche Vermittlung bei Haustieren deutlich höher.
Dennoch will sich die Gruppe das Tier ansehen. Mit der Anwohnerin im Auto reicht der Platz für Hundetrainerin Svitlana Bachurina nicht aus. Die steigt nun auf die Ladefläche des Tundra. Guttormsen drückt das Gaspedal durch, es wirkt, als würde der Pick-up durch die Straßen stolpern. Harte Bremsung. Gas. Fünf Meter. Vollbremsung. Hügel, schweben, Aufprall. Gas, Gas, Gas. Noel Tock schreit: "Sveta ist auf der Ladefläche!" Keine Reaktion. Hügel, schweben, Aufprall. Gas, Gas, Vollbremsung. Bachurina krallt sich am Auto fest, schwankt. Brennende Häuser rauschen vorbei. Die Reifen wirbeln den Sand der Wege auf. Gas und wieder Gas - dann Stopp.
Bachurina steigt von der Ladefläche und wirkt amüsiert. Anders als Noel Tock, dessen Stirnfalten tiefer und der Blick steifer werden. Doch keine Zeit für Diskussion. Die Tiere - wo sind sie?
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Unter einem verrosteten und mit Unkraut bewachsenen Traktor kläfft ein kleiner Hund, ein weiterer rennt Bachurina entgegen, wirkt aggressiv. Doch sie schüttelt nur den Kopf. Dann führt die Anwohnerin die Hundetrainerin in einen Schuppen. Noch ein Hund. Doch auch hier: Kopfschütteln. Warum werden diese Hunde nicht mitgenommen? "Kaum eine Chance, sie zu vermitteln", sagt Tock nur. Und schon geht es weiter.
Im Auto erklärt der 43-Jährige, wie schwer solche Entscheidungen fallen. Doch es sei eben unmöglich, alle Tiere mitzunehmen. Dann lieber nur die, denen man wirklich eine Zukunft bieten könne.
Verkohlte Häuser, Rauchschwaden wie Geister
Der letzte Stopp liegt auf dem Rückweg. Noch immer auf der östlichen Seite des Flusses, doch hier wirkt alles ruhig. Ein alter Mann mit einem Fahrrad weist den Weg zum Haus einer alten Dame. Sie trägt ein rosafarbenes T-Shirt, eine graue Kurzhaarfrisur. Die Tränen fließen. Auch sie will hier bleiben. Will das, was sie ihr einziges Zuhause nennt, nicht zurücklassen.
Trotz Gefahr. Trotz Angst. Ihrem kleinen schwarzen Mischling mit der braunen Schnauze aber will sie ein besseres Leben geben. "Please help", ruft sie den Helfern immer wieder in gebrochenem Englisch zu. "Please help". Bachurina beißt sich auf die Unterlippe, streicht der Frau über die Schulter.
Der Tundra ruckelt das letzte Mal für diesen Tag über die sandigen Hügel von Kupjansk, doch das Gefühl von Erleichterung bleibt aus. Tock und Bachurina blicken aus den Fenstern. Beobachten die verkohlten Häuser, die zerschossenen Reste von Fabrikhallen. In der Ferne schweben die Rauchwolken über der Stadt wie verlorene Seelen.
Im Wagen ist es still. Nur die Schlaglöcher auf der Straße durchbrechen hin und wieder das Schweigen. Wieder liegt eine Mission hinter ihnen. Wieder ein paar Hunde gerettet. Doch die nächste Tour wartet schon.
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