Inmitten von Krieg und Zerstörung hat sich Kiews Nachtleben wieder entfaltet. Das Feiern ist für viele mehr als eine gedankliche Flucht: Es ist ein Zeichen der Unbeugsamkeit, eine Form des Widerstands gegen die Ohnmacht des Krieges. Und eine Erinnerung daran, dass das Leben weitergeht.

Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Joana Rettig . Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Eine dunkle Ecke Kiews. Zwischen Wohnhäusern und Industrie, zwischen Mauern und Metalltoren führt ein Weg aus Pflastersteinen zur Ekstase.

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Hier steht ein Mann. Er trennt den Alltag vom Tanz, das normale Leben von Ausgelassenheit, den Krieg von der Party. Am Körper trägt er eine dunkelblaue Uniform, in der Hand einen Metalldetektor. "Guten Abend", grüßt er die ihm entgegenströmenden Menschen auf Ukrainisch. Der Sicherheitsbeamte überprüft jede Person, bevor sie den Hinterhof betreten darf.

Dort vermischen sich bunte Lichter mit dem Lachen von Menschen und dem dumpfen Pochen verschiedener Bässe. Zwei weiß gekleidete Frauen liegen sich in den Armen, küssen sich. Eine Gruppe filmt sich dabei, wie sie mit ihren Bierflaschen anstößt. Rechts eine Tanzbar, vor der schick gekleidete Menschen Pizza essen und Cocktails trinken, links ein kleiner Club, der Name: "Brukxt". "Underground", wie vier Ukrainerinnen und Ukrainer beschwören, die an diesem Abend genau dort feiern wollen.

Kiew: Hauptstadt der elektronischen Musik

Die Vier, das sind Varya, 28 Jahre, Oleksandra und Nana, beide 29 und Viktor, 32 Jahre alt. Sie alle leben in Kiews Innenstadt, feiern am Wochenende in den Clubs und Bars der Szene. Kiew ist nicht bloß die Hauptstadt der Ukraine. Es ist auch das Herz der elektronischen Musikszene des Landes. Techno, Elektro, Trance. Sogar Drum’n’Bass ist noch immer präsent.

Nachdem am 24. Februar 2022 russische Truppen in die Ukraine einmarschiert waren, wichen die in Kiew so bedeutenden Bässe zunächst den Geräuschen der Raketeneinschläge. Zu Beginn des Krieges waren Bars, Clubs und Cafés geschlossen. Alkohol war im ganzen Land verboten, bis heute gilt in der Donezk-Region eine strikte Prohibition. Eine Ausgangssperre am frühen Abend verhinderte lange, ausgelassene Nächte.

Feiern wollte zu dieser Zeit sowieso niemand. Zu schockiert war man von den Geschehnissen im Land. Die Räume der Ausgeh-Betriebe wurden stattdessen genutzt, um humanitäre Hilfe zu leisten: Essenspakete und Wasser verteilen, medizinische Hilfe leisten. Doch mittlerweile ist die Party wieder in die Großstädte des Landes zurückgekehrt. So auch nach Kiew.

Varya, die nur ihren Vornamen nennen möchte, sitzt im Außenbereich des Clubs und zieht an ihrer Zigarette. Jeden Tag, erzählt sie, ist der Krieg ein Thema bei den Menschen in Kiew. Auch wenn sie am Wochenende Party machen – "mindestens einmal am Abend sprechen wir darüber". Schließlich kenne jeder jemanden, der oder die an der Front ist. Zu Beginn habe man diese Menschen noch mit einer Menge Blumen begrüßt, wenn sie mal wieder zu Besuch in der Heimat waren. "Jetzt wären das allerdings viel zu viele Blumen, die man besorgen müsste", sagt Nana, die neben Varya sitzt.

Heimliches Trinken während der Prohibition

Durch den Hof zieht sich ein schmaler Gang, rechts davon dienen Blendbögen in der Backsteinmauer als Sitznischen, links ranken sich Efeu und Hopfen über den Köpfen der Menschen entlang und umspielen eine Tischtennisplatte. Frauen und Männer mit Bierflaschen und Cocktails lehnen lachend auf Sofas unter Lichterketten. Die Bässe hallen vom Mauerwerk wider. Die Lichter tanzen dazu.

Als Kiew zu Beginn des Krieges belagert wurde, sagt Varya, habe sie es nur eine Woche in der Stadt ausgehalten, bis sie floh. "Ich hatte zu große Angst", erzählt sie, nippt an ihrem Bier und starrt ins Leere. Bis Anfang April 2022 hatten sich russische Truppen der Hauptstadt genähert, die Kiew-Region nördlich der Stadt war besetzt. "Sobald ich hörte, dass die Region wieder befreit worden war, wollte ich zurück", erinnert sich die junge Frau. Sie habe dabei sein wollen, denn alle, sagt sie, alle hätten zurückkommen wollen. Dieses Gefühl, diese Gemeinschaft inmitten des Unfassbaren wollte sie aufsaugen.

Schon damals, im April 2022, habe die erste Bar wieder geöffnet. Alkohol habe man zwar nur unter der Hand bekommen, aber immerhin. Man hatte ja gar nicht vor, groß zu feiern. Doch zusammensitzen, ein Bier genießen, darüber reden, in welcher Zeit man gerade lebt: Danach habe man sich gesehnt.

Dann kam der Frühling des Folgejahres und Varya und ihre Freundinnen und Freunde besuchten die erste Party. Seltsam habe sie sich gefühlt. Mit diesem Gefühl war Varya nicht allein. Auf der Tanzfläche habe niemand ausgelassen getanzt. Man stand da, bewegte sich ein bisschen – und fühlte Schuld.

Eintritt: Spende für Kulturprojekte im Kriegsgebiet

Mittlerweile ist diese Schuld nicht mehr ganz so präsent. "Es finden sogar wieder große Konzerte mit 10.000 Besuchern statt", sagt die Frau mit den roten, kurzen Locken und den zwei Nasenpiercings. Im Mai 2023 besuchte die Gruppe das Cxema Festival – ein elektronisches Musik-Event, das bekannteste in der Ukraine. 2014, kurz nach der Maidan-Revolution, wurde dieses Festival als Sinnbild der ukrainischen Freiheit ins Leben gerufen.

Zu Kriegsbeginn 2022 mussten die Organisatoren das Fest verschieben. Im Mai 2023 dann tanzten Varya und ihre Freunde wieder zu Klängen von DJ-Legenden wie Alex Savage oder Elija. Heute gehört das Feiern wieder zur Hauptstadt. Und die vier Ukrainer sehen sich als Teil des Ganzen.

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Am Eingang des Clubs werden sie von zwei Frauen mit gestylten Haaren und sanften Augen begrüßt. Der Eintritt: eine Spende für Kulturprojekte in vom Krieg betroffenen Gebieten. Die Freunde bekommen einen Stempel mit dem Emblem des Clubs auf den Unterarm, die Handykameras werden zugeklebt. "Man will hier einen Safe Space haben", erklärt Nana. Viktor ergänzt: "Außerdem wollen die DJs nicht, dass irgendwelche Videos von ihnen im Internet kursieren – die wollen sie lieber selbst machen."

Im Innenraum des Clubs spielt eine DJane ihr Set. Dumpfe, tiefe Bässe, wenig Melodie, dafür viel Rhythmus. Die fünf auf fünf Meter große Tanzfläche füllt sich langsam, aber beständig. Rotes Licht wird durch Nebel gebrochen. Die Tanzenden: nur noch wippende Schatten im blendenden Rot der Scheinwerfer.

Alkohol und Drogen als Akt des Widerstands gegen Russland

Draußen gesellt sich ein Freund von Viktor zu der Gruppe. Ilya: olivgrünes Tanktop, rote Schildkappe, weinrote Shorts. Über seinen Schultern hängt lässig ein rot-weiß gestreiftes Baumwollhemd. Auf seinem Oberarm hat er das anatomische Abbild einer Vulva tätowiert. Er packt eine Pfeife aus, stopft sie mit Marihuana und erklärt Nana und Oleksandra scherzhaft, wie die "Donbass-Version des Kiffens" funktioniert.

Drogen nehmen und ausgelassen trinken – während nur wenige Hundert Kilometer entfernt Hunderttausende Männer und Frauen für die Freiheit des Landes kämpfen. Viele, die nicht in der Ukraine leben, können das nicht nachvollziehen. Doch die Gruppe sieht genau dies als Akt des Widerstands gegen Russland.

"Wir sind eine freie Gesellschaft, die Ukrainer wollen frei sein." Jetzt einzuknicken und "den Russen" diese Genugtuung zu geben, das Land in Angst und Schrecken versetzt zu haben, das will man nicht. "Das ist doch genau das, was Terrorismus erreichen will", argumentiert Viktor. "Aber wir lassen uns diese Freiheit nicht nehmen." Jetzt erst recht, denken sie sich.

Lange hält ein Party-Abend allerdings nicht an. Die Ausgangssperre in Kiew beginnt um Mitternacht. Heißt: Man startet früh – und geht noch früher. Um 22:30 Uhr werden die Clubbesucher aus den Sälen gescheucht. Wer danach noch weiterfeiern will, muss sich einen Ort suchen, an dem er übernachten kann.

Die Gruppe um Varya verabschiedet sich allerdings nach Hause. Solange sie jedes Wochenende nur ein paar Stunden das Gefühl haben, das normale Leben eines jungen Menschen zu führen, brauchen sie nicht mehr.

Verwendete Quellen

  • Recherche vor Ort
  • c-x-e-m-a.com: Events
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