• Die Ukraine hat mit einer Großoffensive im Süden des Landes begonnen. Ziel ist die Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete.
  • Auf der Stadt Cherson liegt dabei ein besonderes Augenmerk.
  • Warum das so ist und wie aussichtsreich die Offensive ist, erklärt Militärexperte Gustav Gressel.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen der Autorin beziehungsweise des zu Wort kommenden Experten einfließen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Die Ukraine hat eine Großoffensive angekündigt, mit der sie die besetzten Gebiete im Süden des Landes zurückerobern will. Zivilisten in Cherson und Saporischschja wurden aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen. Das Verteidigungsministerium nannte eine Zahl von etwa eine Million Männer und Frauen unter Waffen.

Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte in der Vergangenheit bereits mehrmals angekündigt, von Russland kontrollierte Regionen zurückzuholen. Die Seehafenstadt Cherson, die vor dem Krieg rund 290.000 Einwohner zählte, dürfte dabei nun besonders im Fokus stehen. Sie war die erste ukrainische Stadt, die von der russischen Armee nach der Invasion am 24. Februar erobert und vollständig eingenommen wurde.

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Die Bedeutung von Cherson

"Cherson ist eine wichtige Stadt", sagt auch Militärexperte Gustav Gressel. Nachdem sie Russland in die Hände gefallen sei, habe Putin begonnen ein Okkupationsregime einzurichten: russische Währung, russisches Staatsfernsehen, Besetzung der Stadtverwaltung. "Der Anschluss an Russland wird vorbereitet", sagt Gressel. Das gelte es aus ukrainischer Sicht natürlich zu verhindern. "Die Zeit rennt, diesen Anschluss will man stören. Das ist politisch wichtig", analysiert Gressel.

Auch militärisch habe Cherson einen hohen Wert. "Hier befinden sich die einzigen russischen Stellungen am Westufer des Djnepr", sagt Gressel. Sie würden einen wichtigen Brückenkopf darstellen – "vor allem, wenn Russland nach Vollendung der Donbass-Offensive eine weitere Offensive in Richtung Odessa planen würde", kommentiert Gressel. Auch, wenn Russland aus dieser Stellung heraus Richtung Norden angreifen würde, würde die Situation für die Ukraine bedrohlich werden.

"Es gibt in der Umgebung nur zwei Flussübergänge über den Djnepr, bei Cherson ist einer davon", erklärt Gressel. Wenn es der Ukraine gelingen würde, diesen Brückenkopf einzunehmen, hätte sie sehr leicht verteidigbares Gelände und würde die Front enorm verkürzen, meint Gressel. "Viele Kräfte auf der ukrainischen Seite würden frei, die man auch im Donbass verwenden könnte", sagt er.

Aber wie aussichtsreich ist die Rückeroberung der Küstengebiete? Aus Sicht von Gressel hängt viel davon ab, wie die Ukraine ihre Feuerkraft und Mobilität verstärken kann. "Die Ukraine hat zu wenig Artillerie, Kampfpanzer und geschützte Transportpanzer", erinnert er. Die genannte Zahl von einer Million beziehe sich wohl auf den gesamten nationalen Verteidigungsapparat.

Mangel an Feuerkraft

"Das heißt nicht, dass eine Million Soldaten an dem Angriff beteiligt sind. Auch die ausreichende Bewaffnung und der gepanzerte Transport für diese Soldaten sind nicht sichergestellt", sagt Gressel. Die Anzahl mechanisierter Verbände sei begrenzt.

Die Ukraine habe zwar enorm viel leichte Infanterie, aber diese könne nur im Infanteriegelände erfolgreich kämpfen – in Wäldern, Sümpfen, im Gebirge und in Städten. "Das Gebiet im Süden ist vor allem Panzergelände. Die Ukrainer müssen also zunächst an die Ortschaft Cherson herankommen", sagt Gressel. Dort könnten sie in einem Ortskampf ihre überlegene Infanterie ausspielen.

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Ausgang der Offensive bleibt offen

"Die Ukrainer sind schon relativ nah an Cherson herangekommen, es sind etwa zehn Kilometer zum Stadtrand", sagt Gressel. Die Herausforderung sei, durch zwei sehr stark verteidigte russische Linien durchzubrechen. "Die Ukrainer haben es geschafft, russische Munitionsdepots in einem Frontabschnitt zu zerschießen. Das könnte die Russen behindern und einen Durchbruch erleichtern", schätzt er. Ausgemacht sei das aber noch lange nicht.

"Während es der Ukraine an Feuerkraft mangelt, fehlen den Russen Infanteristen. Dafür haben sie Artillerie und Panzer", erklärt der Experte. Die Russen müssten insgesamt sehr methodisch und langsam vorgehen. "Es hat jetzt von Anfang Mai bis Anfang Juli gedauert, sich im Süden an den ukrainischen Kräften abzuarbeiten", sagt Gressel. Weiterhin blieben westliche Waffenlieferungen aber von hoher Relevanz.

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Über den Experten:
Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.
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