Eine Webseite behauptet, die Ukraine habe einen Missbrauch westlicher Hilfsgelder zugegeben. Das belegten angeblich Aussagen eines ukrainischen Behördenleiters und des Innenministers Denys Monastyrsky. Ihre Aussagen wurden jedoch aus dem Kontext gerissen: Sie sprachen über Ermittlungen gegen Betrüger, die unter falschem Vorwand Spenden gesammelt hatten.

In sozialen Netzwerken kursiert ein Artikel der immer wieder Desinformation verbreitenden Webseite "Unser Mitteleuropa" vom 10. Juli. Darin heißt es, dem ukrainischen Büro für wirtschaftliche Sicherheit sei vorgeworfen worden, mit Waffen und humanitärer Hilfe aus dem Westen zu handeln. Wadim Melnik, Direktor des Büros, habe jetzt "massive Veruntreuung westlicher Hilfsgelder eingestanden". Rund 1.000 Nutzerinnen und Nutzer teilten den Artikel bei Facebook.

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Unsere Recherche zeigt: Dafür, dass Melnik sich so äußerte, wie bei "Unser Mitteleuropa" behauptet, gibt es keine Belege. Zwar untersuchen ukrainische Behörden tatsächlich Betrugsfälle, die mit humanitärer Hilfe oder Militärgütern in Verbindung stehen. Dabei handelt es sich jedoch vor allem um Sachspenden, die in der Ukraine gesammelt worden sind und nicht um westliche Hilfspakete. Es geht nicht um die Veruntreuung von Hilfsgeldern seitens ukrainischer Behörden.

Es gibt keine Belege für das Zitat von Wadim Melnik vom Büro für wirtschaftliche Sicherheit der Ukraine

Wadim Melnik ist der Direktor des Büros für wirtschaftliche Sicherheit der Ukraine (BEB). Die ukrainische Regierung gründete das BEB im Mai 2021. Seine Aufgaben bestehen unter anderem darin, Straftaten zu untersuchen, die das Funktionieren der Staatswirtschaft bedrohen und den Missbrauch von internationalen Hilfszahlungen aufzuklären. Laut "Unser Mitteleuropa" soll Melnik gegenüber dem Sender Ukraine 24 gesagt haben: "Selbst militärische Güter werden gegen Bargeld verkauft. Wir haben diese Fakten festgestellt".

Wir haben mithilfe einer Übersetzerin auf Russisch und Ukrainisch nach dem angeblichen Zitat gesucht. Die russischsprachige Suche lieferte zahlreiche Treffer, das angebliche Zitat findet sich etwa in Artikeln vom 5. Juli auf den Webseiten zweier staatlich kontrollierter russischer Nachrichtenagenturen: Tass und Ria Novosti. Beide geben den ukrainischen Fernsehsender Ukraine 24 als Quelle an, verlinken aber keinen konkreten Beitrag. Ein Link von Tass führt lediglich zu der Startseite von "Ukraine 24", ein Link von "Ria Novosti" auf den Telegram-Kanal des Senders.

Eine andere mögliche Quelle für das Zitat nennt das russische Medium Kommersant. Es verweist auf den russischsprachigen Telegram-Kanal des ukrainischen Mediums "StranaUA". "StranaUA" wiederum verweist jedoch lediglich auf "eine Fernsehsendung", in der sich Melnik entsprechend geäußert habe, ohne deren Namen zu nennen. "StranaUA" ist nach unseren Recherchen neben den russischen Webseiten das einzige ukrainische Medium, welches das angebliche Zitat verwendet. Recherchen der ukrainischen Faktencheck-Organisation StopFake legen jedoch nahe, dass "StranaUA" vor allem russische Propaganda in der Ukraine verbreitet. Die ukrainische Regierung hatte die Webseite von "StranaUA" im August 2021 kurzzeitig blockiert, das Medium wechselte daraufhin seine Domain, sprich seine Web-Adresse, und ist weiterhin erreichbar.

Eindrücke aus Siwersk in der Ukraine: Leben in ständiger Angst

Siwersk im Osten der Ukraine gleicht einer Trümmerlandschaft. Die einst 10.000 Einwohner zählende Stadt in der Region Donezk stand unter wochenlangem Beschuss der russischen Streitkräfte. Die wenigen verbliebenen Menschen leben in ständiger Angst – und unter prekären Bedingungen.

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Melnik sprach in Interviews nicht über Veruntreuung, sondern unter anderem über das Beschlagnahmen von russischem Eigentum

Um zu prüfen, ob das Zitat wirklich bei einem Interview mit dem Fernsehsender "Ukraine 24" gefallen ist, haben wir auf "Youtube" auf Ukrainisch nach dem Namen des Senders zusammen mit dem Namen "Wadim Melnik" gesucht. So findet man auf "YouTube" ein Interview mit Melnik, das laut der Zeitangabe im Video am 29. Juni geführt wurde. Dabei geht es jedoch nicht um den Missbrauch westlicher Hilfe.

Melnik spricht unter anderem über das Beschlagnahmen von russischem Eigentum in der Ukraine und darüber, dass es Vorfälle gab, in denen die Ausfuhr hoher Mengen Bargeld aus der Ukraine nicht beim Zoll angemeldet wurde. Über die Veruntreuung westlicher Hilfsgelder oder Militärgüter spricht er nicht. Weitere Interviews von "Ukraine 24" mit Melnik fanden wir nicht. Eine Anfrage von uns, ob das angebliche Zitat in einem anderen Interview gefallen ist, ließen sowohl der Fernsehsender als auch Melnik unbeantwortet.

Das Interview wurde auf dem offiziellen Youtube-Kanal des Büros für wirtschaftliche Sicherheit hochgeladen. Dort finden sich weitere Interviews mit Melnik, zum Beispiel mit dem "TV-Sender 1+1", welches jedoch erst am 7. Juli hochgeladen wurde, also nachdem Tass und Ria Novosti ihre Artikel veröffentlichten. In dem Interview spricht Melnik über Korruptionsbekämpfung in der Ukraine und über Strafen für die missbräuchliche Inanspruchnahme von EU-Hilfe.

Melnik: Betrüger missbrauchten Spenden, die in der Ukraine gesammelt wurden

In einem weiteren Interview, allerdings mit dem Sender Levii Bereg vom 1. Juli, spricht Melnik aber tatsächlich über den Missbrauch von Spendengeldern. Er sagt: "Wir haben ein Strafverfahren eröffnet, wonach bereits eine Verdachtsanzeige gegen die Beteiligten besteht, die unter dem Deckmantel von Freiwilligen auf dem Territorium der Ukraine Gelder gesammelt, das Geld nach Europa gebracht und Militärgüter gekauft haben." Darunter sei militärische Ausrüstung wie: Schutzwesten, Zielfernrohre, Quadcopter und Helme "Sie haben alles als humanitäre Hilfe eingeführt. Aber dann haben sie es für 60 Millionen UAH [Anm. d. Red.: Währung der Ukraine] verkauft. (...) Das sind die Fakten, die wir weiterhin sammeln werden." Dabei bezieht sich Melnik also nicht auf Hilfsgüter aus dem Westen, sondern auf Betrüger, die unter falschem Vorwand in der Ukraine Spenden gesammelt haben.

In einem Facebook-Beitrag des ukrainischen Geheimdienstes SBU wird Ähnliches geschildert: Darin heißt es, Betrüger aus der Ukraine hätten unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe Güter im Wert von mehr als 60 Millionen UAH (umgerechnet rund 1,6 Millionen Euro) aus dem Westen in die Ukraine importiert und dann an das ukrainische Militär verkauft. Durch die Tarnung als Hilfsgüter umgingen sie die Zollgebühren und hätten den Staat dadurch um Steuern in Höhe von 20 Millionen UAH betrogen. Die Güter, die der SBU in seinem Facebook-Post aufzählt, ähneln jenen, die BEB-Chef Melnik in seinem Interview beschreibt (etwa Schutzwesten, Helme, Zielfernrohre). Auch die Gesamtsumme ist dieselbe, im Beitrag wird zudem BEB, die Behörde Melnyks, erwähnt.

Das Zitat von Innenminister Denys Monastyrsky wurde aus dem Kontext gerissen – auch er sprach über einige Betrugsfälle

Als weiteren Beleg für die "massive Veruntreuung" westlicher Hilfe zitiert "Unser Mitteleuropa" den ukrainischen Innenminister Denys Monastyrsky. Er habe erklärt, "dass in der Ukraine rund 250 Fälle von Unterschlagung humanitärer Hilfe bekannt geworden seien".

Um diese Aussage zu überprüfen, haben wir auf Ukrainisch nach Monastyrsky und den Begriffen für "humanitäre Hilfe” gesucht. Der Politiker wird in einem Beitrag auf der offiziellen Seite des ukrainischen Innenministeriums am 22. Juni mit den Worten zitiert: "Ihm [Anm. d. Red.: Monastyrsky] zufolge gibt es derzeit einige Betrüger, die die Schwäche oder den hilflosen Zustand der Menschen ausnutzen. Aktuell ermitteln Strafverfolgungsbehörden in 247 Strafverfahren im Zusammenhang mit der Veruntreuung humanitärer Hilfe." Es gebe 29 Verdächtige, das Verfahren werde im nächsten Schritt an das Gericht weitergeleitet.

Auf der Seite des Innenministeriums ist auch ein Interview vom 22. Juni mit dem ukrainischen parlamentarischen Fernsehsender Rada verlinkt, in dem Monastyrsky über die Fälle spricht (ab Minute 2:30). Darin erklärt Monastyrsky, dass es in den meisten untersuchten Betrugsfällen um die angebliche Beschaffung von Spenden für den Kauf von Geländefahrzeugen für Soldaten gehe. "Händler kaufen solche Autos und verkaufen sie in der Ukraine zum Marktwert", sagt er.

Monastyrskys Aussage wird also von unser Mitteleuropa korrekt wiedergegeben, allerdings wird nicht klar, woher die Hilfsgelder konkret stammten.

Transparency International: Ukraine nach Russland das korrupteste Land Europas

Dass die Ukraine ein Korruptionsproblem hat, ist unbestritten. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International für das Jahr 2021 ist das Land weltweit auf Platz 122 von 180, zählt also zu dem korruptesten unteren Drittel der Länder. Unter den europäischen Ländern landet nur Russland mit Platz 136 hinter der Ukraine.

Nach Medienberichten hat die europäische Polizeibehörde Europol zudem Hinweise auf Waffenschmuggel aus der Ukraine. Der Behörde seien mehrere Fälle gemeldet worden, bei denen Einzelpersonen versucht hätten, die Ukraine mit Schusswaffen zu verlassen. Laut einem Europol-Sprecher gibt es Fälle von Schwarzmarkthandel mit Schusswaffen und militärischen Gütern. Es bestehe das Risiko, dass Waffen in die Hände von Terroristen oder der organisierten Kriminalität gelangten.

Darüber hinaus soll es den Berichten zufolge laut dem Europol-Sprecher im Darknet eine US-Panzerabwehrrakete angeboten worden sein. Ob es sich um ein gefälschtes oder ein echtes Angebot handele, sei aber unklar. Man könne nicht ausschließen, dass das Angebot Teil der russischen Propaganda sein könnte.

Fazit: Die Ukraine hat keine "massenhafte Veruntreuung" westlicher Hilfsgelder gestanden. Stattdessen berichten ein Behördenleiter und der Innenminister von Betrugsfällen, die aktuell strafrechtlich verfolgt werden. Der Behördenleiter spricht vor allem über den Missbrauch von Spenden, die unter dem Vorwand humanitärer Hilfe in der Ukraine gesammelt wurden. Der ukrainische Staat kam dabei teilweise selbst zu Schaden, weil Zollgebühren nicht gezahlt wurden.

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