• Seit rund elf Monaten tobt der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Das bekommt die Zivilbevölkerung dort jeden Tag zu spüren.
  • Als Traumatherapeutin unterstützt die Wissenschaftlerin Dr. Imke Hansen seit Jahren Menschen in der Ukraine und besucht auch regelmäßig die Frontgebiete.
  • Im Interview berichtet Sie von den Menschen, die Ihr auf diesen Reisen begegnen, was diese über die Zeit unter russischer Besatzung erzählen und wie man ihnen hilft, mit den Traumata des Krieges fertig zu werden.
Ein Interview

Frau Dr. Hansen, Sie waren von Ende November bis Anfang Dezember in der Ostukraine unterwegs. Was genau war ihre Mission?

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Das war eine Monitoringsreise. Wir fahren regelmäßig in die besonders von Krieg betroffenen Gebiete, um uns mit lokalen Partnern zu treffen, mit den Menschen vor Ort zu sprechen, prüfen wie die Lage ist und zu erfassen, woran es fehlt. Wie sieht es mit dem Zugang zu Wasser, Elektrizität, ärztlicher Hilfe, Medikamenten, Essen und so weiter aus? Das unterscheidet sich mancherorts von Dorf zu Dorf und verändert sich auch stark. Außerdem gehen wir an die Punkte, wo die humanitäre Hilfe ankommt und verteilt wird, um zu schauen, wie das läuft. Wir gehen an die Punkte der Evakuationsrouten, wo Menschen beispielsweise vom Auto in den Zug wechseln und sprechen mit den Gruppen, die die Evakuationen durchführen.

Können Sie uns etwas mehr über die humanitäre Arbeit, die sie in der Ukraine betreiben, erzählen?

Ich bin seit über zehn Jahren Mitglied bei der Menscherechtsorganisation "Libereco – Partnership for Human Rights". Für die Organisation habe ich 2014, als der Krieg begann, angefangen, die Ukraine-Arbeit aufzubauen. Bis dahin hatte sich Libereco mit Menschenrechten in Belarus befasst. Während dieser Aufbauarbeit habe ich die Organisation "Vostok SOS" entdeckt, die in den letzten acht Jahren ein enger Partner von "Libereco" geworden ist. "Libereco" als auch "Vostok SOS" helfen nicht nach dem Gießkannenprinzip.

Das heißt?

Wir stellen uns nicht wie viele andere Organisationen auf den Marktplatz und verteilen dort Kartons an diejenigen, die fit genug sind, dort hinzukommen. Unsere Mission ist, Hilfe dorthin zu bringen, wo trotz Bedarf keine oder zu wenig ankommt. Wir konzentrieren uns besonders auf vulnerable und marginalisierte Gruppen. Also zum Beispiel alte und kranke Menschen und Menschen mit Behinderung, Personen die abgelegen wohnen, oder aus anderen Gründen nicht mobil sind. Und dann haben noch einen zweiten Schwerpunkt.

Und der wäre?

Wir kümmern uns um die Stabilität und psychische Gesundheit von Helfer*innen, Aktivist*innen, zivilgesellschaftliche engagierten Menschen. Fast die gesamte humanitäre und psychosoziale Hilfe in der Ukraine wird gerade von lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen getragen. Wenn diese Menschen zusammenbrechen oder ausbrennen würden, dann würde sehr vielen Menschen nicht geholfen. Es geht darum, die Menschen in die Lage zu versetzten, dass sie sich selbst bei Gesundheit halten und sich gegenseitig unterstützen können. Das ist notwendig, damit die ukrainische Zivilgesellschaft diese Höchstleistung weiter durchhalten kann.

Sie meinten, der Löwenanteil der humanitären Hilfe komme nicht von staatlicher Seite. Lässt die Regierung die Bürger also im Stich?

Nein. Im Stich lassen würde ja bedeuten, dass der Staat es könnte, es aber nicht tut. Ich würde eher sagen, dass der Staat momentan nicht gut genug aufgestellt ist, um das zu leisten. Ich meine die Frontlinie in der Ukraine, das sind 1.500 Kilometer. Entlang dieser Linie reicht das Frontgebiet mindestens 30 oder 40 Kilometer ins Hinterland. Das ist ein riesiges Gebiet. Und der Krieg ist ja nicht auf die Ost- und Südostukraine oder das direkte Frontgebiet reduziert. Der Krieg ist im ganzen Land. Überall ist Fliegeralarm und Raketenbeschuss. Und auch Regionen, wo es nur sehr wenig Beschuss gibt, wie der Westukraine ist der Krieg deutlich spürbar.

Inwiefern?

Weil es dort einigermaßen sicher ist, sind die viele Binnenflüchtlinge dort hin. Und wenn in den Städten 30% mehr Menschen leben als vorher, belastet das natürlich die städtische Infrastruktur, wie zum Beispiel die Kanalisation. Die medizinischen Kapazitäten sind dort teilweise am Limit. Auch die Straßen sind überfüllt und man weiß nicht, wo man die Leute unterbringen soll. Gerade seitdem viele Schulen, wo seit Ende Februar Geflüchtete untergebracht waren, im September 2022 wieder den Schulbetrieb aufgenommen haben. Gerade für Menschen mit Behinderung, mit besonderen Bedürfnissen ist es sehr schwer, eine Unterbringung zu finden, wo sie längere Zeit bleiben können.

Einige der Orte, die Sie besucht haben, standen bis vor kurzem noch unter russischer Besatzung. Was haben Ihnen die Menschen aus dieser Zeit erzählt?

Sie erzählen zwar auch von ihrer Angst und Not, vor allem erzählen sie aber, wie sie sich über die Befreiung gefreut haben und wie dankbar sie der ukrainischen Armee sind. Wenn man ihnen länger zuhört, dann hört man Geschichten von Gewalt. Sie erzählen davon, wie die russischen Soldaten sie bedroht und ausgeplündert haben, wie sie Menschen erschossen, gefoltert oder verschleppt haben. Mütter bitten uns um Hilfe, weil sie nicht wissen, was mit ihren Söhnen passiert ist und ob sie noch am Leben sind. Wir werden noch lange damit beschäftigt sein, uns um diese Leute zu kümmern, die das miterlebt haben. Das ist ein massives kollektives Trauma.

Wie würden Sie die Verfassung der Leute, die sie auf ihrer Reise getroffen haben, beschreiben?

Erstaunlich resilient und widerstandsfähig. Das haben sie auch klar zum Ausdruck gebracht. Die Menschen warten darauf, dass die Ukraine Russland aus dem Land drängt, dass sie anfangen können, ihre Häuser und Städte wieder aufzubauen und wieder ein normales Leben zu leben. Das ist jetzt natürlich nicht möglich. In manchen Orten hört man permanent Beschuss, sieht die Flieger. Das ist keine Kulisse, vor der man ein ruhiges ziviles Leben führen könnte. Da herrscht permanent Stress und Angst.

Könnten Sie uns diese Haltung an einem konkreten Fall beschreiben?

Im Dorf Maksimivka in der Region Mykolajiw haben wir Emilia getroffen. Sie ist eine von vier Personen, die noch in dem Dorf leben, alle anderen sind geflohen. Genau hier war die Frontlinie, in einigen Häusern waren russische Soldaten einquartiert, es gibt kein einziges Haus, das heil geblieben ist. Emilias Haus ist komplett zerstört. Sie wohnt mit ihrem Mann in der Sommerküche, ohne Isolation, ohne Strom und Gas. Die Russen haben beim Abzug die ganze Umgebung vermint – Felder, den Wald, die Häuser. Rechts und links der Straße liegen Minen und tote Kühe. Emilia kann sich nur auf ihrem Grundstück sicher bewegen, kann ihre Tiere nicht auf die Wiese lassen, kein Feuerholz holen. Man kann sich kaum vorstellen, wie man in so einer Situation überlebt. Emilia dagegen ist fröhlich und zuversichtlich. Sie erzählt, wie sie den Sommer über ihren Gemüsegarten gepflegt hat, immer wenn gerade kein Beschuss war. So haben sie und ihr Mann nicht gehungert. Sie konnten natürlich nichts einkaufen, haben monatelang kein Brot gegessen. Humanitäre Hilfe brauche sie nicht, die sollen die bekommen, die es wirklich brauchen, sagt sie. Das ist unglaublich, wie Leute in so schwierigen Verhältnissen sagen: Wir schaffen das, wir halten zusammen und wir kommen klar.

Die Ostukraine hat mit dem Donbass-Konflikt schon lange kriegerische Auseinandersetzungen vor der Haustüre. Glauben Sie, das hat zu dieser Resilienz beigetragen?

Nicht nur zur Resilienz. Es gibt eine ganze Reihe an Leuten aus den Regionen Donezk und Luhansk, die schon einmal geflohen sind, die schon seit 2014 in einem Kriegsgebiet leben, und auch schon seitdem Hilfe für andere organisieren. Da hat man eine gewisse Erfahrung, die jetzt dabei hilft, diese Situation zu bewältigen.

Wie kann man sich ein Leben, in dem der Krieg zum Alltag gehört, vorstellen?

Seit dem 10. Oktober beschießt die russische Armee gezielt Energieinfrastruktur. Seitdem gibt es fast nirgendwo mehr stabile Stromversorgung. Gerade in Kyiv waren die letzten Monate schwierig. Dann ist der Beschuss natürlich stressig. Jeden Tag ist Fliegeralarm, oft sogar mehrmals. Der gilt für große Gebiete, so dass die Wahrscheinlichkeit, selbst getroffen zu werden, nicht so hoch ist, weshalb viele auch nicht bei jedem Fliegeralarm in den Bunker gehen. Aber die Möglichkeit besteht, und das stresst. Außerdem kann meinen dadurch seinen Alltag nicht selbst kontrollieren. Stellen Sie sich vor Sie wachen morgens vom Fliegeralarm auf und denken sich, "wird schon nichts passieren" und schlafen nochmal kurz ein. Dann wachen sie von einem Einschlag auf. Auch wenn der ein paar Kilometer entfernt ist, bebt der Boden und die Alarmanlagen der parkenden Autos gehen an. Da ist man dann sehr schnell wach. Mein erster Gedanke ist dann duschen, wer weiß, ob es später Wasser gibt. Außerdem hat die Dusche keine Fenster, und die splitternden Scheiben bei einem Einschlag in der Nähe sind gefährlich. Ein großer Stressfaktor ist auch die Verminung, das hatte ich ja bereits beschrieben. Überall wo russische Soldaten waren, ist jetzt Minengefahr. Es gibt alle möglichen Minen, sogar in Spielzeug versteckte. Und keiner weiß, wo sie liegen.

Und abseits dieser direkten Gefahren?

Das große Problem ist Elektrizität. Es gibt tatsächlich Gebiete, wo Wochen und Monate kein Strom vorhanden ist. Man muss den gesamten Alltag danach ausrichten, ob es gerade Strom gibt oder nicht. Schwierig ist auch der Zugang zu Wasser. Dort, wo es kein Wasser gibt, wird teilweise Wasser aus Lkws verteilt. Der ukrainisch kontrollierte Teil der Region Donezk war zum Beispiel den ganzen Sommer sowohl von Strom als auch von Wasser abgeschnitten. Jetzt geht es in der Region wieder besser, dafür gibt es diese Probleme zum Beispiel in Cherson. Das Gebiet war bis in den November hinein unter russischer Besatzung, mehr als acht Monate. Die Russen haben beim Abzug gezielt die Infrastruktur vernichtet.

Inwiefern?

Zum Beispiel haben sie die Kraftwerke und die Mechanismen, die das Trinkwasser nach oben pumpen, beschädigt. Auf den Dörfern um Cherson und Mykolajiw herum haben die Leute erzählt, wie die Russen, bevor sie abgezogen sind, mit Panzern die Brunnen zerstört haben, damit die Leute kein Trinkwasser mehr bekommen. Das verstößt gegen internationales humanitäres Recht. Zusammen mit der Verminung ist das der Grund, warum Menschen aus frisch befreiten Gebieten evakuiert werden müssen. Weil die russische Armee ganze Regionen nahezu unbewohnbar gemacht hat, und es sehr schwierig ist, dort den Winter zu überleben.

Leben unter diesen Bedingungen muss für die Bevölkerung sehr belastend sein, oder?

Natürlich zielt die russische Kriegsführung darauf ab, die Menschen zu zermürben. Und es ist es anstrengend, wenn man die ganze Zeit so viel Zeit und Ressourcen aufwenden muss, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen Man muss sich Essen, Trinkwasser, Heizmaterial, möglicherweise einen Ofen organisieren. Man muss Orte suchen, wo es Strom gibt, und sein Handy aufzuladen, Orte wo es mobiles Internet gibt, um der Familie Bescheid zu sagen, dass es einem gut geht. Die Leute versuchen sich so stark wie möglich daran anzupassen, um es hinzubekommen würdevoll zu leben. Mit gegenseitiger Unterstützung, sowie Hilfe vom Staat und zivilgesellschaftlichen Organisationen finden die meisten auch einen Weg.

Die andauernde latente Bedrohung, die kräftezehrende Arbeit, um Grundbedürfnisse zu befriedigen: Wie wirkt sich das auf die Menschen aus?

Was da tagtäglich passiert, ist natürlich traumatisierend. Noch merkt man das aber nicht in dem Ausmaß. Dadurch, dass ihr Stresslevel so hoch ist,, lässt das Nervensystem nichts anderes zu. Man funktioniert, um das Überleben zu sichern. Der Moment, wo die Leute etwas zur Ruhe kommen, ist in der Regel der Punkt, wo Traumata beginnen, Symptome zu entwickeln. Wo Menschen auf einmal Weinkrämpfe und Panikattacken bekommen. Die Folgen von dem Ganzen werden wir in ihrem gesamten Ausmaß erst Monate, teilweise Jahre später sehen.

Und wie helfen Sie den Menschen mit Ihren Traumata umzugehen?

Wir versuchen, da zu sein und Stabilität zu geben. Wir erklären, wie die Leute ihren Körper und ihr Nervensystem nutzen können, um besser durchzuhalten und andere Menschen zu unterstützen. Wenn der Körper mit einer sehr fordernden Situation konfrontiert wird, mobilisiert er "Überlebensenergie". Sobald er die Situation bewältigt hat, entlädt er diese Energie, weil wir nicht permanent auf dieser extrem konzentrierten Überlebensenergie agieren können. Diese Entladung geschieht entweder durch Zittern oder durch Weinen.

Das klingt nach einem natürlichen Vorgang. Inwiefern braucht man dafür Training?

Viele Leute gestatten sich diese Reaktion nicht, weil sie denken, das ist ein Zeichen von Schwäche. Unsere Gesellschaft sagt: Um zu zeigen, wie stark du bist musst du nach herausfordernden Situationen so tun, als wäre das ein Kinderspiel für dich gewesen. Es gibt also ein Missverstehen von körperlichen Reaktionen nach einer Notsituation.

Wie löst man dieses Missverstehen bei den Menschen auf?

Indem man eben erklärt,, wie das Nervensystem funktioniert und dass körperliche Reaktionen nach einer herausfordernden Situation kein Zeichen von Schwäche ist. Vor allen Dingen müssen wir mit den Bewertungen, was Stärke ausmacht und was Schwäche, aufräumen. Es ist kein Zeichen von Stärke, wenn man andere nicht um Hilfe bittet, oder vor anderen nicht zeigt, wie es einem geht. Und es ist nicht ideal, nach einer lebensbedrohlichen Situation einfach nur einen Martini zu trinken wie James Bond und so zu tun als wäre alles bestens. Damit unterbindet man die Verarbeitung des Geschehenen durch das Nervensystem. Wir sind schließlich Menschen und Krieg ist nichts, was an einem spurlos vorbeigeht.

Offenlegung: Der Kontakt zwischen unserer Redaktion und Frau Dr. Hansen wurde von Marco Fieber, Geschäftsleiter von Libereco, hergestellt. Herr Fieber war bis Juni 2022 Mitglied unserer Redaktion.

Zur Person: Dr. Imke Hansen ist promovierte Historikerin für Osteuropäische Geschichte und ausgebildete Traumatherapeutin. Als stellvertretende Geschäftsführerin bei der Menschenrechtsorganisation Libereco, leitet Sie den Bereich Psychische Gesundheit und Psychologische Unterstützung (MHPSS). Selbigen Bereich koordiniert Frau Dr. Hansen auch für die Menschenrechts- und Hilfsorganisation Vostok SOS. Als als zivilgesellschaftliche Trainerin und Mentorin unterstützt Sie so traumatisierte Menschen in der Ukraine.






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