Judenfeindliche Beleidigungen und Hitlergrüße bei "Gelbwesten"-Demos, Hakenkreuze auf jüdischen Friedhöfen, alarmierende Statistiken: Der Antisemitismus scheint in Frankreich wieder auf dem Vormarsch zu sein. Eine Spurensuche in einem ratlosen Land.

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Hakenkreuze so weit das Auge reicht. Blaue, gelbe Hakenkreuze, gesprüht auf Grabsteine eines alten jüdischen Friedhofs im Elsass: Hier, in Quatzenheim nahe Straßburg, haben Unbekannte Mitte Februar mehr als 80 Grabmäler geschändet. Der Vorfall löste in ganz Frankreich Empörung und Entsetzen aus - denn er scheint sinnbildlich zu stehen für ein neues Aufflammen des Antisemitismus im Land.

Um knapp drei Viertel ist die Zahl judenfeindlicher Vorfälle im vergangenen Jahr in Frankreich gestiegen: auf 541, wie das Innenministerium jüngst mitteilte. Und am laufenden Band erschüttern neue Schlagzeilen die Franzosen: Am Rande einer "Gelbwesten"-Demo wird der Intellektuelle Alain Finkielkraut als "dreckiger Zionist" beschimpft. Unbekannte übersprühen in Paris Porträts der Politikerin und Holocaust-Überlebenden Simone Veil. Teilnehmer der "Gelbwesten"-Proteste zeigen in der Hauptstadt den Hitlergruß. Und dann ist da eben die Schändung des jüdischen Friedhofs im Elsass.

Hass im Internet bekämpfen

In dem 800-Seelen-Dörfchen Quatzenheim mit seinen schmucken Fachwerkhäusern herrscht auch in der Woche danach Fassungslosigkeit. "Es ist eine Schande und es ist schade", sagt eine 83-Jährige Anwohnerin, die an einem sonnigen Tag durchs Dorf spaziert. Hier hätten Juden immer in Frieden mit Christen zusammengelebt. Jetzt sei nur noch eine einzige jüdische Familie übrig. "Die Toten, die hier liegen, haben nichts getan, was rechtfertigen würde, ihre Gräber zu zerstören!" Alle im Dorf fragten sich: Woher kommt der Hass?

Auch Frankreichs Regierung sucht nach Antworten auf diese Frage - und nach Lösungen. Staatspräsident Emmanuel Macron kündigte jüngst Maßnahmen an: Seine Regierung will ein Gesetz vorbereiten, mit dem der Hass im Internet bekämpft werden soll. Vorbild ist eine deutsche Regelung. Außerdem verkündete Macron, dass drei rechtsextreme Gruppen in Frankreich aufgelöst werden sollen.

Eine davon ist die "Bastion Social", eine Gruppierung, die sich auf die Ideen der "Identitären Bewegung" stützt. Sie schlägt Alarm gegen den angeblichen "großen Bevölkerungsaustausch" und warnt vor dem Ende der westlichen Kultur. Ein wichtiges Standbein hat die ursprünglich aus Lyon stammende Bewegung im Elsass.

Der Vorsitzende der Gruppe, Valentin Linder, gibt sich unbeeindruckt vom drohenden Verbot seiner Bewegung. Ideen könne die Regierung schließlich nicht verbieten, sagt der 24-Jährige. "Wir müssen nur die Fahne ändern." Knapp zwei Wochen lang hatten Anhänger der "Bastion Social" zwei alte Häuser im elsässischen Entzheim besetzt - in einem sollten "Franzosen in Not" untergebracht worden, das andere sollte vor dem angeblich drohenden Abriss geschützt werden. Die Fahne der Bewegung - ein Turm, aus dem Blitze hervorschießen - hing bis zuletzt vom Vordach des einen Hauses. Am Freitagabend wurden die Gebäude laut Präfektur geräumt.

Seine Bewegung in Zusammenhang mit der wachsenden Judenfeindlichkeit zu bringen, sei falsch, sagt Linder. Die Gruppe sei nicht antisemitisch, sondern "national-revolutionär" und antizionistisch. Macron sei wohl auf der Suche nach einem Sündenbock.

Ultrarechte Bewegungen

Experten sehen aber gerade ultrarechte Bewegungen als einen Grund für das Erstarken der Judenfeindlichkeit. Da sei zwar einerseits der bereits etablierte islamistische Antisemitismus, sagt Frédéric Potier, Antisemitismus-Beauftragter der französischen Regierung, in einem Interview mit der französischen Nachrichtenagentur AFP. Befeuert habe den Anstieg 2018 aber das Wiederaufleben einer extremen Rechten, die äußerst selbstbewusst auftrete. Betroffen sei derweil nicht nur Frankreich, sondern auch etwa Italien oder die USA.

"Wir wohnen dem Wiedererstarken eines traditionellen Antisemitismus bei", sagt auch der Historiker Marc Knobel in einem Gespräch mit der Zeitung "Libération". So sei wieder von der angeblichen Verbindung "Juden und Geld" die Rede - wie in den 1930er-Jahren. Zum Beispiel gebe es Gerüchte, weil Macron vor seiner Politkarriere bei der Bank Rothschild gearbeitet habe. Die Rothschilds sind eine bekannte jüdische Bankiersfamilie. Umfragen belegen zudem, dass mehr als jeder fünfte Franzose an eine jüdische Weltverschwörung glaubt. Besonders verbreitet sind Verschwörungstheorien unter "Gelbwesten"-Anhängern.

Nun ist Quatzenheim nicht der erste jüdische Friedhof, der in Frankreich geschändet wurde - und das Phänomen des Antisemitismus ist in dem Land alles andere als neu. Laut dem Historiker Knobel standen jedoch in den vergangenen Jahrzehnten Anstiege judenfeindlicher Vorfälle meist in Zusammenhang mit Eskalationen im israelisch-palästinensischen Konflikt. Dann sei die Wut auf die israelische Regierung an den Juden in Frankreich ausgelassen worden. Die Spannungen im Nahen Osten dauern an - aber 2018 seien sie weniger extrem gewesen als in der Vergangenheit, resümiert "Libération". Trotzdem gab es einen sprunghaften Anstieg judenfeindlicher Taten.

In Quatzenheim sind die Hakenkreuze mittlerweile von den Grabsteinen entfernt worden. Das Rathaus des Dorfs lädt für Sonntag zu einer Kundgebung am Friedhof ein, bei der ein Zeichen gegen den Judenhass gesetzt werden soll. Die Ratlosigkeit jedoch dürfte bleiben.

(dpa/af)

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