Gerichte nehmen Frauen ihre Kinder weg, wenn sie häusliche Gewalt und Missbrauch schildern. Mehrere Betroffene berichten über ihre verzweifelte Lage, darunter die Ex-Partnerin eines ehemaligen Bundesliga-Profis. Über Drohungen, Schläge und Manipulation: eine Recherche von Correctiv und "Süddeutsche Zeitung".
Verprügelt, verdächtigt, verurteilt: Vor deutschen Familiengerichten laufen Frauen Gefahr, in Folge von Hinweisen auf häusliche Gewalt ihre Kinder zu verlieren. Correctiv und "Süddeutsche Zeitung" (SZ) haben mehr als zehn Verfahren analysiert, in denen Mütter nach entsprechenden Vorwürfen gegen ihre Ex-Partner unter Druck gerieten. In mehreren Fällen haben Gerichte die Sorge- oder Umgangsrechte der Frauen massiv eingeschränkt.
Mehrere Frauen, darunter auch die Ex-Partnerin eines weiteren ehemaligen Fußball-Bundesligaprofis sprechen vom Vorwurf des "Belastungseifers". Die Recherche von Correctiv und SZ zeigt, dass es sich um ein strukturelles Problem vor Familiengerichten handelt.
Frauen, mit denen Correctiv und SZ sprachen, sagen, dass sie gewarnt wurden, erlebte Gewalt im Familiengericht zu schildern. Aus Unterlagen geht hervor, dass Gerichte den Frauen teilweise unterstellen, den Kontakt der Kinder zum Vater sabotieren zu wollen. In der Folge erhalten mutmaßlich gewalttätige Väter in solchen Fällen das Sorgerecht.
Missstände im prominenten Fall Jérôme Boateng
Ein Beispiel ist der Fall
Sein Verteidiger sagte während des Strafprozesses, Sherin S. wolle sich mit falschen Gewaltvorwürfen gegen Boateng Vorteile in dem familienrechtlichen Verfahren erschleichen. In einem psychologischen Gutachten sei ihr "Belastungseifer" attestiert worden. Das Familiengericht hatte Aussagen von Sherin S. über Gewalt gegen sie tatsächlich als unglaubwürdig eingestuft. Zudem wurde ihr offenbar vorgeworfen, die Töchter gegen Boateng aufzuhetzen. Der Kontakt zur Mutter wurde nach Recherchen von Correctiv als so schädlich eingestuft, dass sie ihre Kinder nicht mehr ohne Aufsicht sehen darf. Im Strafprozess wurde Boateng wegen Körperverletzung in zweiter Instanz verurteilt, eine Revision steht noch aus.
Defizite in den Familiengerichten
Wie verbreitet die Defizite in Familiengerichten sind, ist unklar. Es fehlt an Statistiken: "Wenn wir valide Zahlen hätten, gäbe es einen anderen Handlungsdruck", sagt Stefanie Ponikau, zweite Vorsitzende der Mütterinitiative für Alleinerziehende (MIA). "So kann man immer sagen: Es sind alles Einzelfälle."
Auch die Expertengruppe des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Kinder (GREVIO) hat der deutschen Justiz in einem Bericht erhebliche Mängel bescheinigt: "Mit Besorgnis" beobachte man Hinweise auf das "hohe Risiko, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder" vor Gericht "unerkannt bleibt und/oder bestritten wird", heißt es in dem Bericht.
"Wir haben strukturelle Probleme – häusliche Gewalt ist beim Umgangs- und Sorgerecht bisher nicht abgebildet", sagt der Familienrechtsexperte Thomas Meysen, Leiter des SOCLES International Institute for Socio-Legal Studies in Heidelberg. "Wir haben keinen Fokus darauf: Was bedeutet die Gewalt für den betroffenen Elternteil – und wie kann er geschützt werden? Das fehlt im Gesetz völlig."
Ampel-Koalition verpflichtet sich
Die Ampel-Koalition hat sich im Koalitionsvertrag verpflichtet, den Gewaltschutz für Frauen vor Gericht zu stärken: "Wenn häusliche Gewalt festgestellt wird, ist dies in einem Umgangsverfahren zwingend zu berücksichtigen." Das Bundesfamilienministerium sprach sich auf Anfrage von Correctiv und SZ für eine entsprechende Gesetzesänderung aus; ob und wann es dazu kommt, ist allerdings unklar. Das Bundesjustizministerium ist federführend. Dort teilte ein Sprecher auf Anfrage mit, es werde "geprüft", welche "Regelungen sich empfehlen", um Frauen und Kinder besser vor Gewalt zu schützen.
Die vollständige Recherche lesen Sie hier auf correctiv.org.
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